prosa

Textfahne 1 zur Ausstellung DER WALD UND DER STURM, Posting Januar 2023




The Broken and Unbroken Forest


Der Wald ist das Zuhause meiner Kindheit.

Dort erschuf ich Traumwelten, die in völligem Einklang mit mir standen. Ich lebte in dieser verschmolzenen Welt aus kindlicher Phantasie und Wirklichkeit. Baute Hütten und galoppierte mit meinem „Indianerpferd“, das mich immer begleitete. Ich war eine Squaw mit dicken, schwarzen Zöpfen und Freundin von Winnetou, jenem edlen “Indianer” aus den Kultfilmen im Fernsehen. 

In Kanada, im Sommer 2022 auf der Broken Forest Tour durch Ontario, lernte ich Indianer kennen, die keine Indianer sind, denn sie kommen schon einmal nicht aus Indien. Sie sind die First Nation (Nord) Amerikas, indigenous oder native Canadians, und sie waren unsere Lehrerinnen und Freunde auf der Tour durch ihr Land, das wir als Gäste betraten. Der Wald, die Weite schienen mir ein heiliges Land, ein Paradies. Intakt und wild. Ich war beschützt in der Gruppe und verband mich mit den Orten, vor allem durchs Barfußlaufen und durch die kurzen, morgendlichen Zeiten an einem See zum Schwimmen und Meditieren.


Ich erinnere mich: nach meiner ersten Reise nach dem Abitur, ein halbes Jahr lang durch Südeuropa, den nahen Osten und Nordafrika, das erste Mal in der Wüste, draußen schlafen und barfuß laufen als Tramperin und traveller, kehrte ich zurück nach Deutschland und sah den Wald. Er schien mir wie eine Erscheinung, eine Fata Morgana innerer Sehnsucht, aus der Märchenstoffe stiegen wie Dunst und Frühnebel. 

Ich lebte in Freiburg, ganz in der Nähe zum Schwarzwald. Dort verbrachten wir Wochenenden in Tipis mit Trommeln und Feuern zu Vollmond. Das war magisch. Wüste und Wald verschmolzen in mir und bildeten Pole einer neuen Welt, die immer einen Funken Sehnsucht beinhalten sollte.


Heute sind Realität und Vorstellung von heilem und gebrochenem, zerstörtem, ge- oder verstörtem Wald für mich untrennbar miteinander verbunden. Dystopia meets Utopia.

Der Wald als Gemeinschaft, Gesamtheit oder Gesellschaft, als System aufeinander bezogenen Lebens in einem bestimmten Raum, geprägt von Einflüssen, Klima, Umwelt, steht für alles, was auch uns Menschen ausmacht. 


Ich meine, dass der Wald nicht stirbt. Ich meine, dass er uns Menschen überleben wird.


Ich hoffe, wir lernen vom Wald und lernen, ihm nicht zu schaden, sondern mit ihm zu leben zu gegenseitigem Nutzen.


Zum Glück besuche ich den Wald oft und finde dort Regeneration und Existenz. Wurzeln und Kronen. Lebendes und Totes.

Zum Glück kann ich mich verbinden. Mit dem Wald. Mit mir, mit dem Kreislauf des Lebens. Ich bin dankbar dafür.


Zum Glück habe ich eine poetische Sprachader, besuchen mich Visionen.


Der Wald hinter meinen Augen ist der unheimliche, der heimliche Wald.




Bärfüßig - Dancing Barefoot


Haut auf Erde, Wurzel, Sand. Haut auf Stein, Moos, Tannennadel. Haut auf Laub, Staub, Straße. Wenn ich barfuß gehe, verbinde ich mich unmittelbar mit dem Boden. Meine Haut, dieses elastische, dünn gespannte Tuch, in das ich eingewachsen bin, ledrig verhärtet wie Rinde, dort, wo es den Grund berührt, um einen Menschen zu tragen - mich - ist eine Membran. Lässt den Untergrund ein, lässt ihn schwingen. Nimmt Kontakt auf zu allem, was da unten ist und da oben. Bald höre ich auf, über Sicherheit nachzudenken. Spüre. Ich werde ein Wesen und tanze.

Auf der Broken Forest Tour lief ich barfuß, so oft es ging. Da wir viel in der Natur waren, lief ich viel barfuß, manchmal mehrere Stunden am Tag. Bald merkte ich, wie glücklich mich das machte. Meine Füße selbst schienen glücklich, als wären sie zwei sprechende Personen, die, selbständig geworden, endlich agieren dürfen, wie sie wollen. Berühren dürfen, Kontakt schließen, sich kitzeln oder streicheln lassen, Kälte, Hitze, Nässe und Trockenheit spüren- und messen dürfen. Meine kleinen Füße fanden ihren Rhythmus sicher und passten ihn der Beschaffenheit des Untergrunds an. Lebendig und erschöpft, manchmal mit einer kleinen Verletzung, forderten sie eine Massage, Ruhe oder ein Pflaster, aber niemals waren sie böse oder beleidigt. Es ging ihnen wunderbar, und so war ich von meinen Füßen her glücklich. Das Wohlbefinden und die Lebendigkeit stiegen in mir auf und ließen mich tanzen. Mit jedem Schritt wurde ich sicherer und ruhiger in diesem Tanz. 

Beim Barfußlaufen gab es keine Eile. Jeden hastigen Gedanken holten die nackten Füße zurück. Meine Aufmerksamkeit war gestärkt. Ich spürte Dankbarkeit, mich nicht verletzt zu haben auf einem Weg. Nicht den guten Wanderschuhen hatte ich zu danken nach dem Trail durch den Old Forest auf Temegami Island, sondern dem Weg selbst und meinen Füßen. Dieses Erlebnis konnte für mich durch nichts mehr ersetzt werden. Hatten meine Füße genug oder war der Weg zu steinig, trug ich meine Barfußschuhe, die am Fuß anliegen und eine genoppte, weiche Sohle haben.

Ebenso merkte ich, dass die Orte oder die Wege, die ich barfuß durchschritten hatte, mir in besonderer Erinnerung blieben. Sie sind bis heute präsenter, ich fühle mich ihnen intim, lebhaft und sensibel verbunden. Ich erinnere das Gefühl, das von meinen Füßen aufstieg, ganz unmittelbar. Dieses Gefühl kann ich durch die Erinnerung wieder hervorrufen, eine kleine Glücksdroge ohne Risiken und Nebenwirkungen. 

Die barfuß begangenen Wege wurden mein Zuhause, der Zustand des Reisens meine Heimat. Ebenso werden die Wege und Wiesen vor meiner Tür im Bergischen Land erst ganz ein Zuhause, wenn ich sie barfuß durchwandere. Dies tue ich mittlerweile fast ganzjährig, wenn auch in den kalten Jahreszeiten nur für kurze Zeitspannen.


Als ich nach der Broken Forest Tour meine Verwandtschaft in New Brunswick besuchte, durfte ich mit den Kindern meiner Cousine in den Wald gehen. Sofort zog ich meine Schuhe aus, was die Kinder sehr verwunderte. Dann fragten sie mich: Can you teach us to walk barefoot in the forest? So tat ich es, ließ sie vorsichtig und langsam, aber ohne Furcht die nackten Füße aufsetzen und im Zweifelsfall hinter mir hergehen, so dass sie in meine Fußstapfen treten konnten. So wie es die Bären machen, wenn sie über die Geröllfelder der Gletscher wandern. Über Generationen treten sie in die Fußstapfen der Vorgänger. Ich aber bin meine eigene Pionierin und folge meinen Füßen.

An einem Ort im Wald, zu dem ich täglich ging, um dort immer einen ganz bestimmten Baum zu besuchen, fand ich meine Fußabdrücke im Moos. Wäre ich jetzt, im Winter da, wären es Abdrücke im Schnee. Zu den Spuren von Bären, Füchsen und Vögeln würde sich der Abdruck zweier nackter menschlicher Füße gesellen, als gehörte der Mensch doch noch zu den wahren Waldbewohnern. 


Eva Wal, Januar 2023




Textfahne 2 zur Ausstellung DER WALD UND DER STURM, Posting Januar 2023


Travel Drawings 


sind übersetzte Bewegungen, Schwingungen, Rhythmen.

Sie können auch abstrahiert für Dynamiken stehen: Seismographen, die Klimawandel, Stürme, das eigene Befinden und Verhalten darin aufzeichnen. 


Travel Drawings protokollieren die Notwendigkeit, sich zu bewegen, Transport zu nutzen, um Distanzen zu überwinden.

Der Ökologische Fußabdruck als Linie.


Travel Drawings: Meditative Fahrtenschreiber



Broken Forest Tour, Ontario, Canada, Sommer 2022


Manchmal entstehen Ideen aus den eigenartigsten Situationen. Schon, als uns der Bus in Mississauga, Toronto, abholte, war ich müde und fühlte mich erschöpft. Aufgeregt, schlaflos und überfordert von so vielen Menschen, die auf einmal ständig um mich herum waren, nach all der Zeit, die mich die Pandemie kauzig und einsam, aber auch genauso sehnsüchtig nach einer Gruppenerfahrung gemacht hatte. Es war meine erste Gruppenreise überhaupt. Die Gruppe: rund dreißig internationale Künstlerinnen und Künstler; ich wollte es so!

Hatte Zeichenblöcke und Stifte mitgebracht, um Erlebnisse unmittelbar zu Papier zu bringen, zu zeichnen, zu skizzieren. Saß ganz vorne im Bus, einem schwarz glänzenden Getüm kanadischen Ausmaßes, mit Anne, einer kleinen, schwarzhaarigen Fahrerin. Saß vorne, weil ich alles sehen wollte durch die Frontscheibe, die den optimalen Ausschnitt bot.

Kanada heißt Weite. Bäume rechts, Bäume links, durchzogen von Wasser und Straßen. Darüber Himmel, öde, aufregend, je nachdem.

Wir rollten los, die Reise begann.

Müde und unruhig zog ich meinen kleinen Zeichenblock hervor und nahm den Stift in die Hand. Setzte die feine Spitze leicht auf das

Papier. Der Stift begann sich zu bewegen. Ich folgte, ließ ihn seine eigene Reise antreten. Meine Hand folgte dem Stift, nicht andersherum. Das faszinierte mich. Die kleine Zeichnung, die entstand, war Gekritzel. Das mochte ich schon immer. Direkte, unprätentiöse Zeichnungen, Gekritzel. Telefonzeichnungen, Gesprächskrikelkrakel. Und so adelte ich meine erste kleine Reisezeichnung und wiederholte den Prozess. Nahm Uhrzeit und Koordinaten, Orts- und Straßennamen ins Protokoll auf.

Mein Stift wurde zum Fahrtenschreiber, zum Seismographen. Dennoch funktionierte er nicht nur mechanisch. Schon meine Atembewe-

gungen beeinflussten den Stift. Ich war in einem Zustand meditativer Aufmerksamkeit und Konzentration, auf den meine Müdigkeit

sogar unterstützend zu wirken schien.  

Ich verglich die Zeichnungen, jede ähnlich und einzigartig. Ich lud meine Nebensitzer und Gesprächspartner Alex und Jaczeck ein, mit mir gemeinsam ein Travel Drawing zu machen, in der identischen Zeitspanne von etwa zwei bis maximal zehn Minuten. Die Zeichnungen

stellten sich als sehr unterschiedlich heraus. Also war die Zeichnung eine unverwechselbare Handschrift. Das Halten des Stifts ein

individuell gesteuerter Prozess, auch wenn die Tätigkeit äußerst reduziert war. Die Reduktion der Handlung schien das Individuelle noch zu verstärken. Das Spüren, der Kontakt mit dem Blatt entsprachen schon fast dem Barfußlaufen. Der Unterschied ist natürlich, dass die Travel Drawings das Reisen mit einem Gefährt abbilden und ganz wesentlich das Passiv-Aktive dieses Gefahrenwerdens darstellen.

Die Seele, so hörte ich einmal, reise mit dreißig Stundenkilometern. Mit dem Kopf dort sein, wo die Füße sind, ist eine Weisheit von

Handwerksgesellen auf der Walz oder auch von Pilgern. Die eigene Geschwindigkeit, was ist das überhaupt? Eine Seelen- 

reise, was bedeutet das? 

Auch im Alltag haben wir oft eine andere Geschwindigkeit und einen anderen Rhythmus, als uns vorgegeben wird. Den Rhythmus zu

finden, die Musik in den Dingen zu spüren, uns den Einflüssen und Strömungen von außen anzuvertrauen, hinzugeben und  daraus ein

gemeinsames Schwingen von Innen und Außen entstehen zu lassen, ist ein grundmenschliches Bestreben zur Harmonie. Ein 

Streben von Leben überhaupt.


Ich beschloss, die gesamte Tour auf diese Weise zu protokollieren. Schon am zweiten Tag lud mich Lisa, die unsere Tour mit Kamera- und Ton-Equipment begleitete, ein, in ihrem Auto mitzufahren. Ich war dankbar und hatte nun den Job der Beifahrerin, die telefonieren und manchmal navigieren durfte. Es war ein Privileg, welches mir das manchmal zähe Warten, bis die Gruppe vollständig war und der Bus

losfahren konnte, ersparte. Lisa und ich wurden travel buddies bis zu unserer Rückkehr nach Toronto.


Neben Bus und Auto waren besondere Freuden der Reise die Fahrt mit der beeindruckenden Fähre Chi-Cheemaun auf Lake Huron zu

Manitoulin Island, die eine Halbinsel ist. Und die Fahrten mit dem Kanu oder Kajak, wo mich Pearl paddelte, damit ich zeichnen konnte. Pearl wurde auch zum Gast in Lisas komfortablen Auto. Auf der Rückreise lud ich sie ein, mit mir gleichzeitig Travel Drawings zu

zeichnen.


Die Travel Drawings der Broken Forest Tour bilden diese spezielle Reise als individuelle Sammlung von Fragmenten ab. Rhythmische, schwingende Einheiten, die sich durch zitternde Strichzeichnungen offenbaren. Dabei finden sich auch die Unregelmäßigkeiten, das

manchmal Unberechenbare einer Reise gespiegelt: hier wechselt der Stift, dort das Papier und das Format. Die Zeichnungen sind für  

mich eine autonome Nach-Erfahrung der Reise. 


Insgesamt entstanden 39 Zeichnungen in 13 Tagen in Bus, Auto, Fähre, Kanu und Kajak von Toronto nach Kirkland Lake, Northern

Ontario, etwa 1000 Meilen. Als Extra gibt es noch meine eigene Tagestour zu den Niagarafällen und ein Travel Drawing im Flugzeug über dem Atlantik.


Für die Beschriftung habe ich ein Verfahren gewählt, das dem Charakter der Travel Drawings entspricht: meine Handschrift ist mittels Kohlepapier auf den Untergrund übertragen, auf den die Originale aufgezogen sind. Ein Abdruck. Außerdem ist das Geschriebene eine Grafik, was vom griechischen graphein, kratzen, kommt: zum Beispiel in eine Schiefertafel oder, wie hier, in die Oberfläche eines kohlebeschichteten Blatts. Das Geschriebene bleibt bei dieser Technik unsichtbar, bis das Blatt aufgehoben wird. Ein bisschen Zufallsmusik klingt zusammen mit den Travel Drawings. 


Broken Forests Group • Nipissing Region Curatorial Collective • Kirkland Contemporary Art

Endangered Boreal, an International Artists’ Symposium and Tour

Summer, 2022 “Recover and Coexist with Nature”


Eva Wal, Januar 2023




Das Strahlenschloss


Wir lagerten dicht gedrängt. Tausende Menschen waren zum Strahlenberg geströmt, um die derzeit angesagtesten Bands im Land zu hören. Wir kamen wegen Cinnamon. Es war der erster Auftritt dieser noch jungen Band beim jährlichen Rock- und Pop-Festival am Strahlenschloss, dem größten und wichtigsten Musikevent des Landes, weit bekannt auch über alle Grenzen hinaus.
Junge Menschen campten schon Tage vorher auf den Wiesen um das Schloss herum und innerhalb der Anlage. Für alle, die keine Karten für die Schlossanlage mehr bekommen konnten, würde das Konzert auf riesige Leinwände projiziert, so dass man es von den Wiesen aus sehen und über gigantische Lautsprecher hören konnte.


Wir hatten gerade noch Glück gehabt und Karten fürs Schloss bekommen. Schon vor einigen Tagen hatten wir die Zugbrücke passiert und uns einen Platz gesucht, wo wir gechillt abhängen konnten. Wir hatten vorgesorgt, Decken mitgeschleppt, Schlafsack und Isomatte, genügend Proviant, Regenschutz.
Es waren die schönsten Tage unserer Freundschaft. Lea, Janine und ich. Wir lachten und gackerten, lagen aneinander, Rücken an Rücken, Rücken an Bauch und im Kreis mit dem Kopf im Schoß oder auf den Schenkeln der Freundin. Wir flochten uns Zöpfe ins Haar, tranken Dosenbier und hatten auch ein bisschen was zu Rauchen dabei. Den ganzen Tag lagen wir herum, hingen unseren Gedanken und Phantasien nach. Schauten in die Wolken, ließen die Sonne auf uns herunterbrennen, nickten ein und tagträumten davon wie Segelschiffe auf glatter See. Wir plapperten und pafften Marihuanawölkchen in die Luft, den veilchenblauen Himmel über uns. 


Astor, der Leadsänger von Cinnemon hatte lange blonde Rastalocken, die ihn umgaben wie ein Kranz goldener Strahlen. Sein Körper war weiß und dünn, dennoch athletisch. Doch wir waren uns einig, dass es seine Augen waren, die ihn zu unserem ultimativen Prinzen machten. Sie waren dunkelbraun, doch wenn er sang, wir schworen es alle drei, leuchteten und funkelten sie in violett und grün. Sollte er eine von uns erwählen, und das schlossen wir nicht aus, würden wir dennoch Freundinnen bleiben und es der Auserwählten gönnen, das schworen wir uns heiß und tief.
„Wenn er dein Lachen hören könnte, würde er dich sofort nehmen“, meinte Janine zu Lea. „Nein, Janine, er würde sich in Marikes helle Augen verlieben, in ihren Himmelsblick“, sagte Lea über mich. „Ach, Lea, mit deiner Figur und deinen dichten, langen Haaren würdest du ihn bestechen“, gab ich zurück. Vielleicht nimmt er auch uns alle drei, lachten wir und kicherten und glucksten und zogen an unseren Joints.


Das Festival begann. Bands spielten, eine nach der anderen. Wir zogen uns die Musik rein, Bier und Grass. Wir feierten uns und unser Leben, wie es immer sein sollte, wie es niemals aufhören dürfte. Es war ein Rausch und ein Traum, der Traum vom perfekten Leben.
Und nun kam Cinnamon, unser Highlight, am frühen Nachmittag des dritten Tages. Noch einmal schnell aufs Klo, denn dann würden wir uns nach vorne drängen, am besten ganz nach vorne, da gab es dann kein zurück mehr. 


„Wir warten hier“, sagten Lea und Janine, „beeil dich!“
Ich lief los, und scheiße, da war natürlich eine lange Schlange vor den Toiletten, vor allem bei den Frauen. Ich hätte es mir ja denken können. Es musste doch noch andere Toiletten geben, ich war mir sicher. Jedenfalls glaubte ich, schneller zu sein, eine weiter entfernte Toilette irgendwo im Schloss zu finden und wieder zurückzulaufen statt hier zu warten und es garantiert zu vermasseln. Das würden mir Lea und Janine nie verzeihen!
Also lief ich los. „Ist da noch ein Klo irgendwo?“, fragte ich die Ordner, doch sie zeigten in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Ich lief dennoch weiter, fragte wieder einen Ordner. Es war ein Rastatyp, der würde auf der Bühne auch gut kommen, dachte ich. Der Ordner zeigte den Gang entlang, „hier weiter“, sagte er und lächelte mich echt süß an, „ um die Ecke und nochmal um die Ecke, dann kommt eine kleine Holztür auf der rechten Seite. Wenn die offen ist, hast du Glück gehabt, da geht’s nämlich zur Personaltoilette. Du musst nur die Wendeltreppe hoch, also ziemlich hoch“, sagte er grinsend, „aber du hast jetzt eh keine Wahl mehr. Ich nehme an, du willst Astor, ich meine Cinnamon, nicht verpassen? Also lauf!“ Er zwinkerte mir zu, und ich rannte. „Danke vielmals“, rief ich noch und dachte, „der ist auch knuffig. Wenn ich Astor nicht haben kann, dann so einen“.

Den Gang entlang und um die Ecke, Mist, da ist abgesperrt und steht ein Schild „Durchgang nur für Personal“. Davon hat der coole Ordner nichts gesagt, na echt nett. Aber was soll’s, da ist niemand, schnell über das Absperrgitter geklettert und weiter, bin ja schließlich auch cool, schnell weg, weiter, um die nächste Ecke. Ich renne und renne, der Gang geht wohl nie zu Ende, ist irgendwie so lang wie die ganze lange Seite des verdammten Schlosses. Halt, hier ist die Tür, fast hätte ich sie verpasst. Eine kleine, unscheinbare Holztür, braun lackiert und eine schmiedeeiserne Klinke, die ist alt. Ich fasse sie an, drücke runter, und ja, sie geht auf. Schnell rein, Tür hinter mir zuziehen und ja, da ist die Wendeltreppe. Huch, ist das eng, das ist ja eigentlich gar nichts für mich Klaustrophobikerin. Doch, da hatte er recht, der Rasta, ich habe jetzt wirklich keine Wahl mehr. Scheiße, Lea und Janine, ich hoffe, ihr wartet nicht zu lange. Geht ohne mich, auch wenn das sowas von sch------ade ist, ihr würdet mir das nie verzeihen.

Ich renne die Treppen hoch, es ist eng und recht dunkel, nur ein ganz feines Dämmerlicht kommt hier rein in diesen Schneckenturm zur Personaltoilette. Was, wenn der Ordner mir was erzählt hat, wenn er mich irgendwo ins Nichts geschickt hat? Vielleicht weiß er selbst nicht einmal, was hinter der Holztür ist, hat sich einfach einen Spaß gemacht. Vielleicht ist da oben eine verschlossene Tür… Ich muss langsamer machen, es ist hölle steil und einfach nur verdammt eng. Nee, Angstkriegen ist jetzt nicht angesagt, echt nicht. Ich versuche ruhig zu atmen, obwohl mein Herz pumpt und rast, als würde Astor mich in die Arme nehmen und mich küssen. So etwa müsste das sein, wenn er seine Lippen auf meine presst, also stelle ich mir lieber das vor statt eine geschlossenen Tür da oben. Ganz zu schweigen von Gedanken, was dahinter ist, und dass ich eigentlich schon die ganze Zeit dringend pissen muss.
Oder was ist, wenn ich jetzt umdrehe und wieder runterrenne, und dann ist die Tür unten zu. Nein, nein, Astor, küsse mich, halte mich in deinen Armen... Ich rieche deinen Schweiß, Dein Bodyperfume, Cinnamon Dream.
Das Konzert muss schon angefangen haben. Ganz dumpf höre ich die Musik krachen, oder ist das nur eine Halluzination in meinem Ohr? Ach Lea, Janine, bitte bleibt meine Freundinnen, egal, was passiert. Ob ich euch überhaupt einmal wiedersehe?
Ich muss im höchsten Turm des Schlosses sein, die Wendeltreppen hören nicht auf, nein, ich bin gefangen in einer Phantasie, ich hab da was Falsches geraucht und bin auf einem Horrortrip gelandet.
Schweißgebadet, meine Füße rutschend in den Turnschuhen, klettere ich weiter, gebe nicht auf.
Weiter, weiter, weiter, und da: das Ende der Wendeltreppe.
Die Tür zur Personaltoilette, ebenfalls eine schlichte Holztür, diesmal unlackiert, aber wieder mit schmiedeeisernem Griff. Meine nasse Hand klammert sich darum und drückt: auf.


Die Tür geht auf. Ich stehe in einer kleinen, runden Kammer, ganz oben im Schloss.
Da sitzt eine und macht etwas mit Wolle, schaut mich an.
„Tschuldigung“, keuche ich, kurz vorm Kollaps, „dürfte ich hier mal aufs Klo?“
Das Mädchen, etwa in meinem Alter, lächelt und zeigt auf eine Tür. Ich nichts wie rein und endlich, endlich pinkeln. Ausatmen. Den Oberkörper vorlehnen, die Ellenbogen auf den Schenkeln. Ich glaube, ich habe wirklich was Falsches geraucht. Hoffe, Lea und Janine sind nicht auch auf so einem Trip. Ich könnte heulen. Ich glaube, ich brauche Hilfe.
Da ist dieses Mädchen, eine wie ich, vielleicht ist es Lea oder Janine, irgendein Bild von ihnen aus meinem Unterbewusstsein. Eher die superschlanke Janine mit den langen, glatten Haaren, so wie sie vielleicht vor hundert Jahren ausgesehen hätte.
Ich lasse meinen Urin ausströmen und warte, dass sich mein Atem beruhigt.
Ein Dröhnen von weit unten, Cinnamon rockt.
Immerhin, ich habe eine Toilette gefunden, wie auch immer es jetzt weitergeht.
Ist ein altmodisches Badezimmer, alles aus Holz und zum Händewaschen ein Bottich mit Wasser. Seife und ein Handtuch liegen daneben auf einer Kommode. Ein Spiegel, darin ein rotes, nasses Gesicht mit aufgerissenen Augen. Unter dem Rot tritt weiße Gesichtsfarbe hervor, kreideweiß. Jetzt nicht umfallen, niemand findet dich hier. Alles wird gut.


Ich gehe wieder ins Zimmer. Das Mädchen sitzt an einem hölzernen Gestell und dreht Wolle zu einem Faden, wie es aussieht. Sie hält eine lange, spitze Nadel in einer Hand. Trägt ein schönes Kostüm, altertümlich, mit gestickten Rosenmustern auf einem feinen Stöffchen. Kunstvolle Hochsteckfrisur.


„Bist du Schauspielerin?“, frage ich, immer noch leicht keuchend.
Sie schaut mich an. Hammer Augen, wirklich, groß und dunkelblau, wie Juwelen, Lapislazuli glaube ich.
„Aurora“, sagt sie. „Ich heiße Aurora, und du?“
„Äh, Marike“, antworte ich.
„Setzt dich mal“, sagt Aurora, „du bist das Treppensteigen nicht gewöhnt, oder?“ 


Sie hat eine eigenartige Aussprache. Ich kann den Akzent nicht einordnen.
Lasse mich auf den Holzstuhl ihr gegenüber fallen und lächele das Mädchen an. Es kann nicht schlecht sein, bei ihr gelandet zu sein, denke ich, ob das jetzt ein Trip ist oder nicht. Wäre da nicht die Musik. Astors Stimme ist deutlich zu hören von draußen unten. Die Gitarre, die Band. Ich seufze, schaue mich um. Außer einem altmodischen, doch frisch bezogenen Holzbett ist nichts weiter in diesem kleinen Raum. Ich stehe wieder auf und gehe zum Fenster. Keine Fensterscheibe, die frische Luft kommt herein. Das beruhigt mich. Neugierig beuge ich mich vor, sehe hinaus.


Da liegen die Wiesen, breiten sich aus bis zu bewaldeten Hügeln, davor die Parkplätze, Autos und Menschen, Menschen, Menschen. Wir sind ganz schön hoch. Ich lehne mich ein wenig hinaus und drehe den Kopf, um rundherum zu schauen. Zweifellos bin ich hier oben im Schlossturm und unten spielt Cinnamon, auf der anderen Seite der Mauern. Gerade stimmen sie ihren Superhit Whirling Clouds an. Die Stimmung ist jetzt auf dem Höhepunkt. Die Mädchen kreischen und heulen. Zu diesem Zeitpunkt wird dann immer eine riesige Zimtwolke über die wogende Menge gesprüht. Janine und Lea mitten darin. Ich sehe sie vor mir, während die Gesamtheit von Musik und Johlen hier oben als diffuses Rauschen und Dröhnen ankommt. Astors Stimme inmitten der vibrierenden Wolke. In whir-ling, whir-ling clouds, we fly high into the sky.


„Super Aussicht“, sage ich und will mich wieder umdrehen, um zu fragen, was Aurora von Cinnamon hält und ob sie auf Astor steht. Da stößt sie einen spitzen Schrei aus. Ich fahre herum.
„Es ist nichts“, sagt sie, ich habe mich nur gestochen, hier mit der Nadel“. Sie zeigt mir ihren Finger, an dem ein Tropfen Blut prangt.
„Was machst du da überhaupt?“, frage ich, doch Aurora antwortet nicht. Die Nadel und das Wollschiffchen fallen zu Boden. Ihre Arme sinken herab, sie steht auf, taumelt zum Bett und fällt auf die schneeweiße Bettdecke. Ihre Augen fallen zu, der Mund klappt auf. Sie ist wirklich eine gute Schauspielerin. Nur, was ist das für ein Stück, und was mache ich darin? 


„Hei!“, rufe ich und da merke ich, dass die Musik ganz plötzlich aufgehört hat zu spielen.
Es ist still. Ganz still. Nur das Rauschen des Windes vorm Fenster ist zu hören.
Und das Rauschen in meinem Kopf. 


Aurora auf dem Bett. Ich gehe zu ihr, fasse ihr Handgelenk und taste den Puls. Sie ist nicht tot, sie schläft. Ihr Puls geht leise wie auf Katzenpfoten. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn. Sie ist weder heiß noch kalt. Wie hingeflossen liegt Aurora auf dem weißen Laken in ihrem Rosenkleid, einfach hinreißend. Wenn ich Astor wäre, würde ich nicht zögern…
Doch Aurora atmet nicht. Zumindest ist nichts zu hören und zu spüren. Ich beuge mich über sie, lehne mich ganz nah mit meinem Gesicht an ihres, halte mein Ohr an ihre Nase, den Mund. Nichts.
Ich gehe wieder ans Fenster. Was ist passiert? Warum ist die Musik abgebrochen und auch sonst nichts zu hören? Warum gibt es kein Geschrei, keine Massenpanik? Wieso höre ich die Menschen nicht?
Und wie ich hinabsehe, kann ich keine, aber auch wirklich nicht die geringste Bewegung erkennen in den Massen. Alles ist erstarrt, alles ums Schloss und mit Sicherheit auch darinnen. Vielleicht auch alles außerhalb Strahlenbergs und weiter. Vielleicht ist die ganze Welt ganz plötzlich in Auroras Totenschlaf gefallen. Alle und alles, außer mir.
Oder? Hallo, ist da noch irgendwo wenigstens eine Maus, die durch die leeren Gänge und zwischen den Füßen der Erstarrten herumläuft, eine Spinne, die sich von einer Gewölbedecke herabläßt und Zimmerecken einwebt, eine summende Stubenfliege?


Nun bemerke ich erst, dass vor mir, zum Greifen nah, ein Vogel in der Luft steht. Die Sonne lässt seine Flügel golden leuchten, ich kann in seine kreisrunden, starren Augen sehen.
Ich halte mich am Fenstersims fest. Eine Art Lähmung steigt in mir auf und zieht sich wie eine zweite Haut über mein rasendes Inneres.
Ich bin alleine.
Lea, Janine, Astor, Aurora, der Vogel. Ich, außerhalb.
High we fly, into the sky, in whirling, whirling clouds.
Meine Kehle ist trocken, meine Hände zittern.
Ich setzte mich ans Fußende zu Aurora aufs Bett und versuche, mich zu fassen. Ich höre das Rauschen vorm Fenster, oder ist es wirklich nur in meinem Kopf? Nein, der Wind geht, die Luft bewegt sich. Es gibt Hoffnung.


Ich springe auf, stürze zur Tür und renne die Treppen hinunter, renne und renne, unten angelangt öffne ich die Tür, renne den Gang entlang zurück zum Schlosshof. Da steht der Ordner mit den Rastalocken, regungslos. Die Menschenschlangen vor den Toiletten, die Crowd, die Cloud. Lea und Janine, die treu auf mich gewartet haben und auf einen Platz an der Bühne verzichteten. Tränen schießen in meine Augen. Ich umarme meine Freundinnen, sie atmen nicht. Sie sehen mich nicht, hören nicht, spüren nichts. Sie stehen da wie Statuen und glotzen ins Leere. Erstarrte, im Leben gefangene Figuren.
Ich sehe die Bühne, Astor mit hochgerissener Gitarre in der Hand, den Mund weit geöffnet, von Weitem. Ich kann mich nicht durch die Menschenmenge drängen, denn die Menschen sind unbeweglich. Ich ziehe an der Jacke eines Jungen, knuffe vorsichtig seinen Oberarm. Er rührt sich nicht, steht steif und stumm.
Die Angst will in mir aufsteigen wie eine Säule, ich möchte schreien.
Whirling, whirling Clouds


Von Entsetzen gepackt stolpere ich hinaus aus dem Schloss, über die Zugbrücke. Überall Menschen, deren Anwesenheit mir vorkommt wie eine Farce.
Ich muss mich durch die Menge hindurchschlängeln, niemand weicht aus, niemand tritt in meinen Weg. Ich schreie in die von plötzlicher Leere überfüllte Welt. Horror, Angst und wildes Aufbegehren in mir reißen mich fort, hinaus ins Ungewisse. Hinter dem Parkplatz ist der Wald.
Die Sonne sinkt langsam, der Himmel färbt sich rot, orange und violett, dann immer tiefer werdend blau. Ich renne in die Dunkelheit.



Eva Wal, Mai 2020


Elefantenliebe

Frau Brahm

Frau Brahm sitzt am Fenster. Dort sitzt sie meistens und schaut hinaus in den Park.
Im Winter ist es draußen trüb und kahl, im Herbst färbt sich das Laub bunt, im Sommer ist es grün und dicht, und im Frühling kommen die Knospen hervor. Knoten sitzen an den Zweigen, die bilden Zeichen und Zeichnungen, das Alphabet einer fiebrigen Sprache. Und dann, aufeinmal, explodiert alles. Der japanische Kirschbaum ist eine Kuppel aus rosarotem Schaum.
Frau Brahm nimmt dieses Schauspiel mit Gleichmut hin, wie sie alles gleichmütig nimmt. Ihr Ausdruck, ihre Körperhaltung verändern sich nie, ob es draußen hell oder dunkel ist, ob die Natur hervordrängt, die Sonnenstrahlen wärmere Farben über die Rasenfläche zwischen den Bäumen vor ihrem Fenster gießen, oder ob alles in Kälte und Nebel gehüllt steht, der Wind durch die entblößten Bäume und durchs braune Laub am Boden fegt.
Auch, wenn Frau Brahm keine Regung zeigt, wirkt sie nicht teilnahmslos, sondern aufmerksam. Was für Bilder gehen wohl hinter ihrer runzligen Stirn herum, tagein, tagaus wie Licht und Wetter?

Frau Brahm hat keine Angehörigen. Glücklicherweise hinterließ ihr verstorbener Mann genug Geld, so dass sie in diesem komfortablen Alterswohnsitz, der Seniorenresidenz Kirschblüte, den Rest ihrer Lebenszeit verbringen kann. Vorausgesetzt, sie wird nicht zu alt. Genauergesagt reicht ihr Vermögen bis zu ihrem 85. Geburtstag, keinen Tag länger. Danach wird sie in ein gewöhnliches Altenheim umziehen müssen.
Da Frau Brahm nicht spricht und keine Mine verzieht, weiß man nicht, ob sie versteht, was man ihr sagt. Man hat versucht, ihr schonend beizubringen, dass ihr 85. Geburtstag unmittelbar bevorsteht, am 28. März 2022.
Das Pflegepersonal der Seniorenresidenz Kirschblüte will der eigenartigen Frau Brahm einen würdigen Abschied bereiten. Alle mögen sie. Ihre Besonderheit, das, was in ihrer stillen Aufmerksamkeit liegt, scheint aus ihr zu dringen, aus ihren kleinen, dunklen Augen, die mit der Zeit immer weiter in sie hineinzusinken scheinen, als käme ihr Blick aus einem immer tiefer werdenden Brunnen. Sie hat etwas von einem Elefanten. Gutmütig, unendlich freundlich, aber dünnhäutig und außerordentlich empfindlich und empfindsam.

Eine der Pflegerinnen, Minna, liebt Elefanten. So wundert es nicht, dass sie auch Frau Brahm besonders mag. Minnas Elefantenliebe geht sogar noch weiter. Heimlich verehrt sie die alte Frau fast wie eine Gottheit. Für ihren Geburtstag wird Minna einen Kuchen backen und ein paar Kirschzweige aus dem Park bringen, was eigentlich nicht erlaubt ist. Die Heimleitung hat ihre stille Zustimmung gegeben.

Frau Brahms Lebenslauf ist nicht von Bedeutung, sie ist eine ganz gewöhnliche Frau. Nicht sehr weit ist sie gekommen im Leben, hat nichts Besonderes erreicht. Angefangen von der Schulzeit, da hat sie gerade mal mit Ach und Krach das Abitur geschafft. Danach mehrere abgebrochene Studiengänge und dann Reisen nach Asien, dazwischen weitere angefangene Ausbildungen. Frau Brahm interessierte sich für Sprachen, große Tiere in fernen Ländern, Literatur, Archäologie, aber nirgendwo brachte sie es zu einem Beruf. Sie jobbte und heiratete schließlich. Bekam Zwillinge, die früh starben, an ihrem fünften Geburtstag. Das ist wohl das Außergewöhnlichste an Frau Brahms Leben.
Es war ein Unfall, dessen Umstände nie aufgeklärt wurden. Bei einem Spaziergang mit ihren Kindern überquerte Frau Brahm eine Landstraße, wahrscheinlich hielt sie die Zwillinge, zwei Mädchen, an den Händen. Sie wurden von einem Auto erfasst. Frau Brahm überlebte, die Kinder waren sofort tot. Der Fahrer des Autos beging Fahrerflucht und konnte nie ermittelt werden.
Frau Brahm erlitt einen so großen Schock, dass sie sich bis heute nicht mehr an die Mädchen erinnert. Sie weiß nicht einmal, dass sie je Kinder hatte.
Doch ihr Leben ging weiter. Sie begann, sich für Kunst und Kunstgeschichte zu interessieren, fing an, selbst zu zeichnen, malte Aquarell, und manchmal schrieb sie Gedichte. Sie schrieb in Briefform, es waren also Briefe in Gedichtform, die sie immer an eine Mina und Lina adressierte und sorgfältig in einer Schublade ihres altmodischen Sekretärs verwahrte.
Mit ihrem Ehemann hatte Frau Brahm zeitlebens ein unkompliziertes, friedliches Verhältnis. Das Geheimnis lag darin, dass die beiden über genügend innere Distanz verfügten, und er über genug Einkommen. Das teilte er gerne mit seiner Frau, die nicht in der Lage war, einen Brotberuf auszuüben. Dass ihr Ehemann Geliebte hatte, störte Frau Brahm nicht. Er verheimlichte seine zahlreichen Affären keineswegs. Dass aber Frau Brahm eine ganze Reihe Liebhaber aufzuweisen hatte, das ahnte er nicht und hätte es wohl auch nicht für möglich gehalten. Wer außer ihm fand schon etwas an dieser verschlossenen und auch nicht besonders attraktiven Frau?
Über das Liebesleben von Herrn und Frau Brahm ist aber in keiner Akte etwas erwähnt.
Ende gut, alles gut. Herr Brahm starb eines natürlichen Todes und hinterließ seiner Frau seine Ersparnisse. Er war Optiker oder Lehrer gewesen. Frau Brahm weiß das nicht, es muss aber ihrer Akte zu entnehmen sein.

Es ist der 27. März 2022. Die Pflegerin Minna betritt Frau Brahms Zimmer. Sie lächelt. Schaut in das Gesicht der alten Frau, in dem sie eine Elefantengottheit zu erkennen meint. Minna geht zu Frau Brahm, berührt sanft ihren Oberarm, steicht sogar ganz leicht über eine Wange. Dann nimmt sie Frau Brahm am Arm, so dass diese aufsteht und mit Minna ins Bad geht. Frau Brahm soll heute gründlich gewaschen werden.
Minna läßt heißes Wasser in die Badewanne ein. Frau Brahm ist ziehrlich und beweglich, sie kann gut noch selbst in die Badewanne steigen und sich waschen. Natürlich kann sie auch das Wasser einlassen, ihren Lieblings-Badezusatz mit Kakaobutter hinzugeben und alles vorbereiten: frische Handtücher, frische Wäsche zurechtlegen, den Badeschwamm. Normalerweise tut sie das auch. Doch dies ist Minnas Dienst an Frau Brahm, einen Tag vor ihrem 85. Geburtstag.
Frau Brahm lächelt. Das heißt, ihr ganzes Wesen lächelt, ohne dass sie dabei eine Mine verzöge.
Minna hilft Frau Brahm, sich zu entkleiden und in die Badewanne zu steigen. Sie summt dabei eine Melodie, ganz leise, eine kleine Melodie, die so klingt wie Kirschblütenschaum.
Dann geht Minna. In zwanzig Minuten werde sie zurückkommen, sagt sie, und falls etwas sei in der Zwischenzeit, falls Frau Brahm etwas wünsche oder brauche, dann, das wisse sie ja, könne sie die Glocke läuten.


Frau Chan

Frau Chan schreibt ihr erstes Gedicht in einer selbsterfundenen Sprache. Sie sitzt auf ihrem gold schimmernden Thron, gegossen aus dem Wachs wilder Bienen. Zitronenfalter flattern um sie herum, und um ihre Füße hat sich eine blau glänzende Schlange gewickelt. Faru Chan schreibt mit einem eingerollten Blatt der Zimtpflanze.
Alle Türen und Tore im Palast stehen weit offen, damit der Wind durch alle Zimmer, Flure und die großen Hallen wehe und den Duft der gerade aufgegangenen Kirschblüten aus dem Park hereinbringe.
Frau Chan ist der einzige Mensch in diesem Palast. Sie lebt hier mit ihrer Schlange, den Zitronenfaltern, anderen exotischen Schmetterlingsarten, den wilden Bienen und mit tausend farbigen Elefanten. Frau Chan hat kein Gefolge, keine Dienerschaft und keine Familie. Um sie herum wandeln die Elefanten auf ihren weichen Elefantenfüßen, mit ihren schwingenden Rüsseln und fliegenden Ohren, ihren kleinen, dunkel blinkenden Augen, als käme ihr Blick aus tiefen Brunnen. Die kreidige, runzlige Haut der Elefanten leuchtet in tausend Farben. Jedes der erhabenen Tiere hat eine eigene Farbe. Tausend Elefanten unterschiedlicher Farbe wohnen in Frau Chans Palast. Eigentlich ist es genau andersherum: Frau Chan wohnt im Palast der tausend farbigen Elefanten.
Die Wände im Palast sind aus Glas, die Decken aus durchsichtiger Seide, die Böden, Treppen und Säulen aus Porzellan. Ein großer, prächtiger Park voller kostbarer Bäume, Blumen und Kräuter umgibt den Palast.
Frau Chans schulterlange Haare sind glänzend schwarz, sie hat kakaobraune Haut und purpurne Hände, aus denen die Knöchel elfenbeinweiß hervorstehen. Ein süßlicher Geruch geht von ihr aus und verströmt sich in ihrer Aura. Nun hat sie ihr Gedicht beendet und schreibt das Datum darunter. 82. März 2202. Eigentlich ist das Gedicht ein Brief, ein Liebesbrief an die Elefantenkinder Mina und Lina. Hellblau und dunkelgrün sind die beiden Zwillingselefanten. Sie unterscheiden sich nur in winzigen Nuancen von anderen hellblauen und dunkelgünen Elefanten. Außerdem wechseln die Elefanten ständig die Farbe. Hellblau und dunkelgrün sind Minas und Linas Farben am 82. März 2202, als Frau Chan einen Brief an sie schreibt.
Draußen im Park rauschen die Bäume, und die tropische Fauna gibt ihr immerwährendes Konzert.


Minna

Als Minna nach zwanzig Minuten pünktlich wiederkommt, findet sie das Bad leer. Frau Brahm ist nirgends zu finden. Das Badewasser ist von eigenartiger Farbe, blaugrün etwa, etwas bräunlich und grau. Die Luft ist schwer und heiß. Es riecht nach Zimt.
Minna geht durch Frau Brahms Zimmer zum offenen Fenster. Sie schaut in den Park, läßt ihren Blick durch die Bäume und über den gepflegten Rasen schweifen, dann schließt sie das Fenster.
Gerade, bevor sich die Fensterrahmen berühren, fliegt ein Brief durch den letzten offenen Spalt.
Die Altenpflegerin nimmt den Brief an sich, ein etwas modriger Geruch strömt ihr entgegen. Sie steckt den Brief in die Tasche ihres weißen Kittels. Dann verlässt sie das Appartement der Frau Brahm und schließt die Tür. Geht über die aufeinmal menschenleeren Flure, die Treppen hinunter zum ebenfalls menschenleeren Empfang. Ihre weichen, ledernen Schuhe machen fast kein Geräusch auf dem elfenbeinweißen Porzellan. Die Türen muss sie nicht öffnen, denn alles ist offen. Als Minna durch die letzte Tür der Seniorenresidenz Kirschblüte ins Freie tritt, in den Park, nimmt sie den Brief aus der Tasche, zieht ihren Kittel aus, wirft ihn hinter sich, öffnet im Gehen den Brief, liest ihn und wirft ihn dann in die Luft. Er schwebt davon wie ein Flügel, hellblau.
Dahinten, unter den Kirschblüten, steht ein dunkelgrüner Elefant. Und wie Minna auf ihn zugeht, fällt der Buchstabe “n” aus ihrem Namen. Er bleibt auf dem Parkweg liegen wie ein kleiner Zweig.

Eva Wal, total surreal
1. April 2020

 


Oksanas Dienst

Ich sitze mir gegenüber im Spiegel. Finde mich häßlich. Das macht das Licht, denke ich, und: das machen die extra. Fast schäme ich mich des Verschleißes, der mir entgegensieht. Doch sah ich schon müder aus, war erschöpfter, auch wenn mein Haar heute fahler und grauer ist.
Der Friseur auf der Goltsteinstraße ist nicht billig. Dafür führt man mich erst einmal in einen abgedunkelten Raum und läßt mich unter einer gigantischen Haube Shampoo verschwinden. Schaum türmt sich auf meinem Kopf, Schaum verschließt ein Ohr, das Porzellan des Waschbeckens drückt in meinen Nacken. Die Hände meiner Friseuse, Oksana heißt sie, bewegen sich auf meiner Kopfhaut. Ich höre die weiche Stimme aus einem osteuropäischen Gesicht, unter dem sich ein leicht gerundeten Körper bewegt. Kühles und warmes Wasser strömt an meinem Kopf herab. Dann sitze ich wieder vor dem Spiegel, der mich häßlich macht. Oksana massiert leicht meinen Nacken und die Schultern, ich schließe die Augen. Schon bin ich geschmeidiger, und auch der Spiegel ist ein kleines bißchen freundlicher und gnädiger gestimmt.
Nun wird mein Nacken rasiert, die Haare darüber ganz kurz geschnitten. An der Schere prangt ein glitzernder Schmuck, ein kleines Detail, ein Beitrag zur Rechtfertigung der Preise. Oxana wendet ihr Handwerk an. Schnipp, schnapp, los geht’s, im Handumdrehen bin ich 38 Euro los. Ich kenne das: Spitzen schneiden, etwas mehr, es soll ein Schnitt sein, dass das Haar wieder fällt und eine Frisur erkennbar ist, die sitzt und eine Weile hält. Ganz schön kurz hinten, denke ich, lasse es geschehen, denn Haare wachsen schnell, und Oksana versteht ihr Handwerk.
Ich spüre Spannungen in meinen Handgelenken, etwas Festes, fast Verkrampftes. Meine Hände liegen unter dem Kittel, der mich umgibt wie eine Hülle. Eine Kutte, die mein geschnittenes Haar auffängt. Silberner Graupel. Kaum merke ich, wie die Haarschnipsel beständig, in feinster Quantität herabrieseln. Oksana scheint die Enden meines Haares in alle Richtungen zu spalten, zu schlitzen, zu sezieren. Aus den befreiten Spitzen strömt ein Glanz, der sich über den Spiegel legt und allmählich mein Gesicht weicher zeichnet, ebnet und schwingen lässt.
Wenn ich niemanden mehr habe, gehe ich zu Oksana, denke ich.
Schnipp, schnapp, sie ist ernsthaft, ich bin es auch. Neben uns wird über Karneval geredet. Ein plötzliches Lächeln von Oksana ist ein echtes Lächeln. Ich erwidere es, und das Lächeln springt in den Spiegel, der es wiederum zurückgibt. Mein Haar fällt, und nun nimmt Oksana einen großen, schwarzen Föhn zur Hand und fragt ganz harmlos: darf ich? Ich weiß, das kostet extra, aber ich ahne, dass nun das Handwerk zur Kunst wird und nicke. Wie sie auf vielfältige Weise mein Haar bearbeitet hat, wie eine Blidhauerin, so föhnt sie nun gleich eines Derwischs. Ein Wirbel, ein Tanz. Ja, es ist Kunst und ich bin ihr Kunstwerk. Sie schneidet wieder, föhnt weiter, offenbart endlich ihren Kampf mit der Symmetrie: die eine Seite ist perfekt, aber die andere...! Sie bleibt geduldig, aber unerbittlich. Ich bin der Stein, den sie meißelt und nicht aufgibt vor Vollendeung der Form mit dem letzten Schliff und Glanz. Das Bild im Spiegel wird immer heller, weicher und voller wie mein Haar. Das Grau wird zu Silber. Ich sitze hier als ein Vogel, der gerupft und dabei aufgehübscht wird, die Flügel in Form gezupft, durchlüftet mit kunstfertigen Winden aus Oksanas Händen.
Mittlerweile fragt keine Friseuse mehr, ob sie färben soll. Verstummt sind die Stimmen, die mich hindern wollten, ungeschminkt und ungefärbt dem Alter entgegenzuschreiten. Doch nun denke ich auf einmal, dass ein wenig Lippenstift mir stehen könnte. Ich finde weiterhin, das Einreiben mit duftenden Ölen könnte ebenso zu Oksanas Zauberwerk gehören und durch erweiterte Massagen ergänzt werden.
Nun ist auch schon mein Pony geschnitten und zu einer perfekten Gesichtsrahmung geworden, der optischen Verbindung von rechter und linker Haarseite; links williger, glatter als rechts, wo Locke und Wirbel ihren eigenwilligen Schabernack treiben.
Nachdem Oksana ein paar Mal mit dem Spiegel einen Halbkreis um mich herumgegangen ist, damit ich mich ganz sehe, mit meinem Blick den verjüngten Kopf umkreisen kann wie der Mond die Erde und die Erde die Sonne, schüttele ich den Kopf leicht hin und her, lächele ich, und Oksana lächelt auch. Ihr Werk wird akzeptiert. Dem Stein gefällt die Form, in die er geschliffen wurde, und er belohnt die Künstlerin mit seinem Glanz.
Doch bevor der Vogel mit harmonischen Flügeln davonfliegen darf, wird das Werk bezahlt. Aus dem Spitzen schneiden für 38 Euro wurden nun 62 Euro für Oksanas Dienst. Ein Trinkgeld obendrauf. Auf Pflegemittel und Volumenspray habe ich verzichtet. Ich zucke nicht einmal, sondern unterschreibe, als fehle unter dem Werk nur noch meine Signatur. Dabei an Geld zu denken, wäre nichts als schäbig.
Ein letztes Mal lächelt Oksana, stolz nun, und sagt: Sie brauchen keinen Zopf, denn das wollte ich ja ursprünglich, bevor ich mich ihren Händen anvertraute: noch einen Zopf machen können. Doch jetzt sind Gummiband, Spange und Klammer überflüssig geworden. Weg damit! Auch davon bist du nun befreit, sagt meine Zauberin und entlässt mich endgültig in die Freiheit: bis zum nächsten Mal.
Ich öffne die Tür und trete wieder auf die Goltsteinstraße in den blauen Abend. Kühl, wie frisch geschnitten und geföhnt, fallen die Tropfen des Januarregens auf mein Haar. Ich merke, dass ich singe, wie ich zur Straßenbahn gehe. An die Mütze in meiner Tasche denke ich nicht einmal.

Köln, Februar 2020



Paris, im Juli 2019

Aggie, the Cat

Give what you can, take what you need.

Zehn Uhr, elf Uhr, dazwischen eine Stunde mit einer Gottheit auf meinem Schoß.
In Ancient Times Cats Were Worshipped As Gods; They Have Not Forgotten This, sagt Terry Pratchett.

Der oberste Raum von Shakespeare & Company ist auf einmal mein Wohnzimmer, ich ein Teil des Inventars mit dem Privileg dieser Hoheit auf dem Schoß, mitten im Paris der Touristen und Sensationen.
Hier oben eine Insel, überflutet und durchströmt zwar, doch der literarische und internationale Schlamm gehört zu den fruchtbarsten und kostbarsten Böden, die man wohl finden kann.
Be not inhospitable to strangers/ let them be angels in disguise, steht über einem Durchgang in diesem alten, verwinkelten Gebäude.
Auf dieser Oasen-Insel kommen überall weitere kleine Inseln und Oasen zum Vorschein. Holzstühle, mit Stoff bezogene Lager, auf die man sich niederlassen kann zum Lesen, Eckbänke, eine Nische mit Piano sogar und hier, im ersten Stock, der Ledersessel neben dem Tisch am offenen Fenster. Auf dem Tisch eine Vase mit violetten und weißen Blumen. Irgendjemand sagt: oh look, a cat on the table, lavender, open window - how French can it get? Nun, das ist wohl der Blick durch die violette Frankophilen-Brille, der aus den strohartigen lila Blumen Lavendel macht und alles in betörenden Duft hüllt.
Zehn Uhr zehn.
Im Café neben dem weltberühmten Buchladen wollte man mich nicht bedienen, we are not open yet, obwohl es schon neun Uhr dreißig war, was genau der angezeigten Öffnungszeit entsprach, und obwohl schon mehrere Menschen an den Tischen ihr Croissant und den Kaffee genossen. Meine Antwort wurde ignoriert, und ich ging, wollte mir den Morgen nicht verderben.
Durch den Park nebenan rollt eine Touristenführung nach der anderen, Schläuche voller Menschen aller Kontinente werden hier ausgepresst. Zwischen den Handyfotos schnappt man ein paar Informationen auf. Da rein, da raus, wie die Fotos, wie die Menschen, welche Menschen?
Lächelnd verklärte oder gelangweilte Statisten vor steinernen Pendants, pardon, geht es doch hier allerorts um Denker, Herrscher, Heilige, in pathetische Posen gehauen, derer man gedenkt. Und ich gehöre nun einmal auch dazu, bislang auf der Seite der Statisten.
Das Croissant von Odette, dem Café hinter der nächsten Ecke des Parks, nur ein paar Schritte von Shakespeare & Company, ist köstlich und wurde mir mit einem echten Lavendellächeln verkauft.
Zehn Uhr zwölf.
Mein alter Sessel ist an der Oberseite einer Lehne schon so abgewetzt, dass er Einblick in seine Innereien gewährt. Doch selbst das wirkt gepflegt antik & how French can it get on this English speaking island. Ich kann nur ahnen, wer sich hier schon bequem angelehnt hat, den einen oder anderen Furz ließ und jenen oder welchen geistigen Erguss hervorbrachte. Über mir prangt eine Tafel mit einem Bild und Informationen zur Hauspatronin Sylvia Beach, die mich ob solcher despektierlicher Gedanken nur tadeln kann. Oder lächelt sie milde und humorvoll intellektuell?
Neben mir geht die tapezierte Tür auf, und jemand vom Staff kommt heraus. Immer wieder wird sich diese Tür öffnen und schließen, und meistens bekommt meine Schoßfreundin dann ein paar freundliche Worte mit einem Lächeln und eine Streicheleinheit en passent.
Ich frage nach ihrem Namen, den ich später auf einigen Zetteln im Nebenraum über dem Piano geschrieben sehe, und der sogar auf Wikipedia zu finden ist. Doch die freundliche Frau verrät ihn mir auch so: Aggie. Aggie, the Cat, chose my lap! Auf meiner schwarzen Parisbluse hinterläßt sie ihre Haare. Sie schnurrt und lässt sich von mir ihr prächtiges, grau-oranges, von dunkeln Streifen durchzogenes Fell streicheln, ihre langen, kräftigen, schneeweißen Schnurrbarthaare und Wimpern bewundern und überhaupt, ihre eigenwilligen Zeichnungen im geheimnisvollen Katzengesicht, weiß ums Maul, grüne Augen, distinct and mysterious. Ich streichele sie behutsam und fest, hoffe, mir ihre Gunst zu erkraueln, zu erhalten, und ich jubele mit Charles Dickens: What Greater Gift Than The Love Of A Cat? Ich zitiere gleichfalls Ernest Hemingway, der solches vielleicht sogar hier, in diesem Sessel, gedacht, gesagt, geschrieben haben mag: A Cat Has Absolute Emotional Honesty: Human Beings May Hide Their Feelings, But A Cat Does Not.
Mit der Katze auf dem Schoß werde ich angesehen wie eine Instanz, automatisch sehe ich mich selbst als eine solche und beginne, die Menschen auf das Fotoverbot hinzuweisen, sobald sie ihre Kameras zücken. Es funktioniert. Sie entschuldigen sich bei mir, oh sorry, yes, of course, nur die verwegenste Touristin sagt zu ihrer Verteidigung I did not know it’s for the cat, bevor sie das Handy zögernd zurücksteckt. Aber dann mache ich eine Ausnahme, als ein junger Vater seine kleine Tochter am Fenster fotografiert, und damit verliere ich die Lust an meinem selbsternannten Job. Was fällt mir ein? Und was bürde ich mir auf? Genug gespielt.
Zehn Uhr dreißig.
Ich habe Muße gefunden, bin mein Kopfweh losgeworden, meinen leichten Missmut. C’est moi et le chat. Zücke meine Schreibkladde und kritzele die Seiten voll mit Notizen für eben diese Geschichte. Aggie lässt sich davon natürlich mitnichten verstören oder gar vertreiben. Das hat sie mit meinem Kater zuhause auf dem Land gemeinsam. Katzen lieben Papier. Es geht mir wie Ray Bradbury: I Have My Favorite Cat, Who Is Also My Paperweight, On My Desk While I am Writing. Nur habe ich heute statt eines desks einen ganz besonderern fauteuil mit einer Favorite Cat und einem Zuhause auf Zeit, das mich für eine Stunde von meinem Touristendasein erlöst. Sehr d’accord mit dem von mir sehr verehrten Jean Cocteau, lasse ich diesen für mich sprechen: I Love Cats Because I Enjoy My Home; And Little By Little They Become Its Visible Soul.
All diese Zitate habe ich übrigens aus einem Buch, das ich vor knapp einem halben Jahr bei einem vorigen Paris-Besuch hier erstand und meinem mari zum anniversaire cinquante schenkte, zusammen mit eben dieser Paris-Reise. Voilà.
Zehn Uhr vierzig.
Ich sehe keinen Anlass, diesen Platz zu verlassen, vor allem, weil auch mon mari sich in ein Buch vertieft hat und nicht zum Gehen drängt.
Im Februar diesen Jahres, als ich zum ersten Mal Shakespeare & Company besuchte, war ich auch schon Aggie begegnet. Sie saß auf dem Schoß einer Frau wie mir, und auch ich dachte damals, die Dame sei Personal oder eine Schriftstellerin, gehöre zum geistig-intellektuellen Mobilar.
Jeder bewundert dieses außerordentlich schöne, geschmeidige und zutrauliche Tier, das sich neben seiner auratischen Katzen-Präsenz durch samtenes Schnurren und eine hohe, feine, schmeichelnde Miau-Stimme bemerkbar machen kann. Viele wollen sie streicheln, und sie lässt es geschehen. Eine Frau, Deutsche wie ich, ist sogar so übergriffig, Aggie zu streicheln, während sie auf meinem Schoß von mir gestreichelt wird. Fast berühren sich unsere Hände, kreuzen sich im Revier des Katzenfells.
Nachdem die Frau diese Grenze überschritten hat und ihrem Partner dabei von ihren Gefühlen berichtet und dass sie an ihre Katze zuhause denkt (Luder!), trauen sich auch zwei umstehende Kinder, die ihre vor Verlangen zuckenden kleinen Händchen bis dahin nur schwer zurückhalten konnten, die Katze wenigstens zu berühren. Aggie läßt es zu, und ich lasse es geschehen mit ihr in meinem Schoß. Große Güte! Einige Minuten sehe ich durch ihre grünen Augen, die mir fast gläsern hell, aber undurchsichtig erscheinen. Höre die Sprachen, spüre das Drängen, den Vorstoß der unbekannten Energien, die Fremdheit der angels in disguise.

Mein Schwanz schlägt heftig hin und her, während ich auf dem Schoß dieser Frau liege. Von der Schnauze bis zur Schwanzwurzel bin ich ruhig, zutraulich, zahm, doch hier hinten äußern sich meine Unruhe und mein Misstrauen, meine Vorsicht.
Was ist sie für eine Frau, die es sich heute auf meinem Sessel bequem gemacht hat und denkt, dass ich mir sie ausgesucht habe, dabei habe ich mir meinen Sessel erobert! Was also ist sie für eine? Nicht groß, nicht jung, hellhäutig wie die meisten Frauen, die hierher kommen. Ihr eigener Duft ist vermischt mit Creme und Parfum, wie bei allen Frauen hier. Europäerin, eher aus dem Süden als aus dem Norden, vielleicht sogar Französin. Warm und bedürftig ist ihr Schoß. Schwarze, leichte und schwerere Kleidung liegt über ihrer Haut und ihrem Duft. Ihre Schenkel sind weich und fest genug, mir als fauteuil zu dienen. Sie ist ein gepolstertes Möbel aus massivem Holz, Obstholz mit Drehwuchs, würde ich sagen, Pflaume oder die etwas sanftere Birne. Da sind Türen überall an ihr. Die dort am Knie ist geschlossen. Hier, diese mit dem Messinggriff steht am weitesten auf. Ich schlüpfe hinein... Doch das ist eine andere Geschichte. Vielleicht sogar ein Krimi?
Da ich hier in dieser edlen Company in der Kriminalbuchabteilung gefunden wurde, hat man mich in Anlehnung an Agatha Christi Aggie genannt. Das war das große Los, dass ich hier bleiben konnte! Und ich wusste wie’s geht, habe lange genug auf der Straße gelebt (aber das ist wieder eine andere Geschichte).
George Whitman, der ehemalige Besitzer, der seinen prominenten Buchladen Mistral nach dem eigentlichen Shakespeare & Company der tapferen Sylvia Beach umbennante und auch seiner Tochter den Namen der Ulysses-Verlegerin verpasste, war natürlich Katzenliebhaber. Ich bin die Nachfolgerin seiner Kitty. George hatte nach dem Motto gelebt: Give what you can, take what you need. Ich lebe es auf Katzenart: Take what you can, give what you need.
Dazu gehört auch eine Eigenart von mir, nämlich, dass ich meine Schöße protokolliere; also die, auf denen ich Platz genommen habe. Ich schreibe  sie alle auf, übertrage meine Eindrücke auf imaginiertes Papier, papier imaginé, kratze, ritze, zeichne mit Geheimtinte sozusagen, ganz und gar immateriell, versteht sich.
Ich, Aggie, protokolliere nun mein Schoß-fauteuil, de 10 au 11 heurs, mercredi, le 17ième Juillet 2019. Meine Protokolle stecke ich in die Bücher, unter denen sich die Regale biegen. Doch meine Aufzeichnungen fügen ihnen kein physisches Gewicht hinzu. Überall schiebe ich sie hinein. Da war zum Beispiel die Japanerin im Blumenkleid, gestern Abend, kurz vor Ladenschluss. Tom Wolfe, page 147/ 148, glaube ich. Weiter kann ich mich nicht erinnern.
Ich lebe im Moment, mein Gedächtnis ist ein Archiv, das hier zwischen den Zeilen raschelt. Unsichtbar und undurchsichtig wie mein grüner Katzenblick.
Während ich durchs Haus streife oder irgendwo einnicke, egal, ob am Tag, während der Touristenschwemme, oder nachts, wenn ich hier alleine bin (mit den Ratten und Mäusen, by the way), flüstert es mir entgegen von den Buchrücken, den Regalen, den Stühlen, aus den Ecken und von den Fotos: Irving Stone, Viginia Woolf, Robert Hargreaves, Simone de Beauvoir, Ernest Hemingway, Allen Ginsberg, Djuna Barnes, William S. Burroughs, James Joyce, George Orwell, F. Scott Fitzgerald, Anne Carson: Float, Rumi Love Poems, Poems by Elizabeth Bishop, Montaigne (When I Am Playing With My Cat, How Do I Know She Is Not Playing With Me?), Donald Maclean: British Foreign Policy since Suez, Paradise Lost, Ezra Pound, Rimbaud: Season in Hell, Mary Oliver: Devotions, Bilingual Classical Poems By Arab Women, John Muir: Wilderness Essays, Jack Kerouac: Desolation Angels, Chinua Achebe: Africas Tarnished Names, D.H. Lawrence ...
Ach ja, bevor der Moment verstrichen ist, un moment s’il vous plaît, hier stecke ich das neuste Protokoll hinein: of Cats and Men von Sam Kalda, page 26/ 27, quotes Mark Twain: A Home Without A Cat - And a Well-Fed, Well-Petted, And Properly Revered Cat - May Be A Perfect Home, perhaps, But How Can It Prove Title?

Take what you can, give what you need.

Bye for now, Aggie




Bulgarische Begegnungen


Ich will einen Teee kochen und lerne Boyans Garten kennen

Am Grund meiner Thermoskanne warten Fenchelsamen auf kochendes Wasser. Chai, sage ich und zeige die Kanne, schütte ein paar Samen auf meine Hand. Doch Boyan, unser Gastgeber, bringt mir einen Teebeutel für Chai. Der nächste Versuch: er kommt mit Woda mineral.
Das Wort “kochend” finden wir im Wörterbuch, können es aber nicht aussprechen. Und Boyan will nicht lesen und nicht verstehen. Da, der Kessel, das Wasser, meine Kanne, Chai spezial.
Ich nehme den Magen zur Hilfe, denn stomach versteht er und man kann unmissverständlich Magenschmerzen zeigen mit Grimasse dazu.
Da geht er in den Garten und kommt mit einer Ringelblume wieder, leuchtend orange streckt sie mir ihre feinen Blütenblätter entgegen. Ich esse Blatt für Blatt. Doch Boyan ist noch lange nicht bereit, Wasser in den Kessel zu füllen und eine Gasflamme zu entzünden. Wieder verlässt er den kleinen Frühstücksraum und geht in den Garten, in den Schuppen, bringt Thymian, ah, Thymian!, Minze, ah, Minze!,  und Linde, ah, Linde! Ich rieche und koste.
Endlich entscheidet sich unser Gastgeber, eine Flamme auf dem Gaskocher zu entzünden und den mit Wasser gefültlen Kessel darauf zu stellen. Dann geht er in den Garten und wendet sich den zwei Kanarienvögeln, Papageien, zu, die im Käfig unter Weinreben hängen. Es sind seine Lieblinge. Doch auch das Hühnergehege, vor dem der Kettenhund Rita sein Dasein fristet, muss geflickt werden und Rita bekommt heute das Wurstbrot, das vom Frühstück des Vortags übrig blieb und das wir auch heute nicht essen wollen. So vergißt Boyan das Wasser auf der Gasflamme und ich gieße meinen Tee auf.


Erdbeeren und Akazien

Nach drei Nächten in Bela Rechka füllt sich das Dorf. Boyan, unser Gastgeber, hat die Kapazität seines Hauses voll ausgenutzt und noch vier weitere Gäste aufgenommen. Seine drei Zimmer sind also voll belegt, die Rolle dünnstes Klopapier pro Tag muss nun eben für sechs statt zwei Personen reichen. Meine Zimmergenossin und ich beschließen, in den zirka zehn Kilometer entfernten Nachbarort zu reisen, um dort schwimmen zu gehen, bevor das Festival beginnt. In Varshets gibt es ein Schwimmbad mit Wasser aus einer mineralischen Quelle.
Unsere neuen Zimmernachbarinnen sind frühmorgens angekommen und konnten auf dem brettharten Bett im Zimmer ohne Fenster überhaupt nicht schlafen. Sie wollen mitkommen, um Geld zu wechseln. Und dann werden wir noch einkaufen. Also wird das Taxi organisiert und eine Route besprochen, die der Taxifahrer fahren soll: zuerst zur Bank, dann zum Schwimmbad, dann zum Einkaufen und zurück. Gut.
Hier in Bulgarien ist es üblich, miteinander zu reden, egal, ob man dieselbe Sprache spricht oder nicht. Der Taxifahrer fährt los und fängt gleich ein Gespräch an mit mir, die ich auf den Beifahrersitz geschickt wurde. Ich antworte auf deutsch, wie es sich gehört. Einfach reden. Von hinten sagt die neue Zimmernachbarin: Du, ich glaube, der versteht dich nicht.
Weiter geht’s über Stock und Stein mit deutsch-bulgarischem Wald-und-Wiesen-Sprach-Cocktail. Doch nun will der Taxifahrer wirklich, dass ich etwas verstehe. Er pflückt einen Zettel und einen Kugelschreiber irgendwo hervor und beginnt eine Zeichnung anzufertigen. Das erfordert einiges Geschick und auch Kompromissbereitschaft, was die Konzentration auf die holprige Straße und die Qualität der Zeichnung angeht. O Gott, während des Fahrens!, kommt es von hinten. Sehr eindringlich deutet der Fahrer mit runden, schwitzigen Fingern auf seine Zeichnung. Er ist ein lebhafter Mann von runder, kräftiger Statur. Sein helles Gesicht ist leicht fleckig und er scheint schnell zu schwitzen. Ich sehe mir die Zeichnung an, sofort setzt meine Imagination ein: ein Teddy mit Sommersprossen? Eine Landkarte? Ein fliegender Lollie über dem Kopf des Teddys, der aber auch eine Landschaft sein könnte? Darüber steht: Ata, das ist der Name des Schwimmbad-Hotels. Also, was will er uns sagen? Ich nehme die Zeichnung und halte sie nach hinten, damit Phantasie, kollektive Kombinationsfähigkeit und Interpretation uns einer gemeinsamen Lösung entgegenführen mögen. Unser Taxifahrer engagiert sich weiter in wiederholten Erklärungsversuchen. Wir haben keinen Zweifel, dass er uns irgendwo hinfahren will. Dadurch aber kommen Zweifel anderer Art auf, nämlich an seiner Seriosität. Vielleicht will er uns etwas verkaufen, um seinen Deal aufzubessern. Schließlich haben unsere bulgarischen Unterhändler dafür gesorgt, dass wir keinen Touristenpreis zahlen, sondern nur den wirklich billigen, regulären Taxipreis. Wir kreisen weiter um Teddy, Lolly, Landkarte undsoweiter und kommen zu keinem Ergebnis. Der Taxifahrer gibt schwitzend auf.
Wir erreichen das Hotel. Er begleitet uns zur Rezeption. Die Zeichnung hat er dabei. Legt sie der freundlichen, englisch sprechenden Dame am Empfang auf die glänzend polierte Theke. Mit erhobenen Armen und lebhaftem Ausdruck erzählt er ihr alles, was er uns wieder und wieder verständlich machen wollte. Dann seufzt er und stützt sich seitlich auf den Empfang. So kann er der Dame zuhören und uns dabei betrachten, die wir nun endlich seine Nachricht erhalten. Die Dame lächelt und sagt: He wants to tell you there are really nice strawberries in a shop, where you can do your shopping. He wants to know if you would like to buy strawberries.
Wir drücken unsere Zustimmung aus und bedanken uns für diesen Vorschlag.
Auf dem Rückweg kaufen wir die wunderbaren Erdbeeren und Kirschen dazu und naschen gemeinsam davon. Der Taxifahrer ist zufrieden, und wieder geht die bulgarisch-deutsche Unterhaltung voran, während die grüne Landschaft vorbeizieht und uns der Fahrtwind um die Ohren weht. Gerne rankt sich ein solches Gespräch um Wörter, die beide kennen, Rakija zum Beispiel. Und nun hält der Taxifahrer ganz unvermittelt an, steigt aus und geht ins Gebüsch am Straßenrand. Was, der pinkelt jetzt mitten auf der Fahrt?, kommt es von hinten. Doch der Fahrer kommt zurück mit einer weißen Akazie, aus der man wohl Rakija machen kann. Aber, und das verstehe ich jetzt sofort, man kann sie auch essen. Er macht es vor und reicht mir dann mit seiner uns nun schon vertrauten Leidenschaft die Pflanze. Gehorsam zupfe ich eine Blüte ab und esse sie. Süßherb, schmackhaft, gut. Ich nicke und esse. Wir fahren weiter, zurück ins Dorf Bela Rechka, und wir zahlen nur den regulären Fahrpreis. Aber unser Fahrer gibt mir seine Visitenkarte und ich bin sicher, dass wir kein besseres Taxi rufen können, wenn wir wieder ins Nachbardorf wollen.


Frau Holle

Während ich in Stob an der Bushaltestelle stehe, betrachte ich das Storchennest auf dem Dach eines der vielen verfallenen Häuser.
Nun bekomme ich Gesellschaft, eine alte Frau kommt und setzt sich auf die Bank. Da sie sofort beginnt, mit mir zu sprechen, setze ich mich neben sie und lasse mich darauf ein. Ich habe schon etwas Übung. Mal etwas sagen, mal nicken, mal auch nur murmeln, so bleibt das Gespräch lebendig. Für mich aber ist es eine Einladung, einem Menschen ins Gesicht zu schauen.
Unbekannten Menschen darf man nicht einfach in die Augen schauen, sie betrachten, ihre Gesichter studieren, auf ihren Furchen und Falten mit den Augen hin und herfahren. Sich eine Lebensgeschichte erdenken, Fragmente, Episoden. Gefühle aufsteigen lassen wie weiße Wölkchen, die einen Berggipfel umgeben. Das wäre unhöflich, unanständig, aufdringlich. Nein, dafür braucht man eine Genehmigung. Mit dieser aber gehe ich nun ungehemmt spazieren im gegerbten, zerfurchten, zahnlosen Gesicht des Mütterchens mit Kopftuch und dunkler Kleidung und einer etwas schrillen Stimme. Ihre Augen leuchten klar und hell wie Blumen am Wegesrand. Ich biete ihr einen Keks an, den sie auch annimmt. Auch sie möchte mir etwas geben. Aus der Stofftasche mit der Aufschrift “Wimbeldon Town” kramt sie eine blauweiß gestreifte Plastiktüte hervor, greift hinein und reicht mir dann einen Strauß Holunderblüten. Weiß und duftend, so wie jene, die überall um uns herum wachsen und blühen. Zuhause in meinem Hotelzimmer stelle ich das Geschenk in einen Becher neben mein Bett.


Der alte Mann und die Arbeit

Die meisten Menschen, denen ich in diesem Land begegne, sind freundlich und hilfsbereit. Sie reden mit mir, sie laden mich ein zu einem ganz unaufdringlichen Kontakt, verbindlich und flüchtig zugleich. In Rila steigt der Busfahrer mit mir aus, zeigt mir Ort und Uhrzeit, wo der Bus am nächsten Morgen zum Rila Kloster abfährt. Einfach so.
Also stehe ich am nächsten Morgen kurz vor sieben Uhr an der Bushaltestelle, einen Kaffee in der Hand, ein paar Kekse in der Tasche.
Der alte Mann auf der Bank hat ein Lachen auf seinem sonnengbräunten Gesicht. Er spricht mit mir, ich biete ihm einen Keks an. Er nimmt ihn, seine hellen Augen leuchten zufrieden aus schwarzer Umrahmung. Er wartet auf den Bus, der ihn in die Stadt bringt. Dort hat er Arbeit. Er zeigt mir sein Auftragsbuch. Mit dicken, blauen Kugelschreiberstrichen hat er einen Kalender in eine Kladde hineingemalt. Der Kalender umfasst alle Tage, an denen er Arbeit hat, keinen Tag mehr, keinen weniger. Hier sind wir, am 28. Mai. Der Auftrag begann etwa eine Woche zuvor und reicht noch bis zum letzten Tag des Monats. Jeden Tag von morgens bis nachmittags, die Uhrzeiten sind mit ebenfalls dicken Linien und unterstrichen in die Tage eingetragen, ist er an der Kunstschule der nächsten großen Stadt beschäftigt. Mit seinen ten percent English und ein wenig Körpersprache erzählt er mir, dass er als Modell arbeitet. Kopf, Hals, Statur. Ich kann ihn mir vorstellen, wie er zufrieden die Blicke der jungen Studentinnen auf sich spürt, die ihn mit ungeteilter Aufmerksamkeit anschauen, alles von ihm wissen wollen, was seine äußere Erscheinung mitteilt. Ob sie sein Lächeln, sein Strahlen einfangen können mit Zeichenkohle und Graphit?
Ich jedenfalls zücke spontan Notizheft und Bleistift und zeichne ein Portrait von ihm, bis mein Bus kommt.


Der Tourismus vertreibt den heiligen Geist und ein grüner Besen eine ungehorsame Touristin

Im ersten Bus zum Rila Kloster bin ich die einzige Touristin. Die Menschen im Bus sprechen nicht miteinander. Sie fahren zur Arbeit. Wir steigen gemeinsam aus, betreten das Kloster mitten im dichten Wald am Berg. Wie eine Umarmung umfassen hohe, weiß getünchte Mauern einen Innenhof. Während meine Mitreisenden zielstrebig auf Türen zugehen und dahinter verschwinden, bleibe ich erst einmal stehen und erhebe mein Gesicht. Gerade ergießt sich das Sonnenlicht des neuen Tags in diesen Innenhof, über die großen, runden Pflastersteine, die weißen Mauern, die Ornamente und Fresken. Die Pflastersteine leuchten matt, das Weiß der Klostermauern strahlt mystisch mit dem Schnee der umliegenden Berggipfel. Das Licht kommt aus einem makellos blauen Himmel. Ich drehe mich um die eigene Achse. Meine Augen, meine Schritte suchen einen Weg, langsam, betört, benommen, ergriffen. Ich sehe Brunnen mit Schöpfkellen daran und Münzen darin, ich höre sprudelndes, gurgelndes und plätscherndes Wasser und über uns die Vögel. Eine hohe Tanne strebt mit den Mauern empor, ein üppiger Flieder blüht mit den Farben der Fresken an der Klosterkirche. Dann geht ein Krachen los, Schüsse fallen, dazu verzerrte, apokalyptische Vogelstimmen. Ein plärrendes Chaos aus Lautsprechern kommt über uns herab wie verstimmte Fanfaren zum jüngsten Gericht. Diese ungeheuerliche Zerstörung der Klosteratmosphäre hört irgendwann abrupt auf, doch dann schreien die echten Vögel und stieben davon.
Was geht hier vor? Der Terror wiederholt sich im Minutentakt. Unvorstellbar, dass man hier freiwillig so eine Entscheidung getroffen haben soll. Ist das, bitte, der Preis für Klosterdächer und Balkons ohne Vogelkot?
Dennoch ist es eine intime Stunde. Klosterbrüder, Kinder, alte Frauen, sie sprechen miteinander, begegnen sich, berühren und küssen die Bilder der Heiligen. Die Klosterbrüder zünden Kerzen an, bereiten sich auf den Tag vor. Ein matter Glanz schwebt auf ihren schwarzen Gewändern. Das Tageslicht strömt durch die Fenster und durch den goldenen, runden  Kranz des gewaltigen Leuchters, der aus der Kuppel herabhängt.
Ich verlasse das Kloster und gehe in den Wald, folge den Bächen und Wegen und kehre erst am späten Mittag zurück. Nun hat sich hier alles verwandelt. Naiv und naturverzaubert hatte ich nicht mit einer Touristenüberschwemmung heute gerechnet. Doch da sind sie alle, die mit Selfiesticks bewaffneten  Massen und Mengen aus aller Welt. Und nun erfahre ich, wie sehr dieser Ort verdorben wurde.
Ich will Postkarten kaufen, gehe mit einem Stapel Karten zur Kasse des klösterlichen Souvenirshops, frage nach Briefmarken. Ich brauche aber nur Briefmarken für einen Teil der Postkarten und eine Briefmarke für einen Brief nach England. Der Verkäufer versteht mich nicht, aber er holt seinen Taschenrechner und zeigt mir eine Zahl darauf, die mit absoluter Sicherheit um ein Vielfaches zu hoch ist für Karten und einige Briefmarken. Da es im Hof auch eine Post gibt, will ich auf die Briefmarken verzichten und nur die Karten kaufen. Doch der Verkäufer beharrt auf der Zahl auf dem Display des Taschenrechners. Wütend nimmt er den Stapel Postkarten und knallt ihn mehrfach vor mir auf den Ladentisch, so lange, bis ich mich schließlich umdrehe und hinausgehe.
Darauf gehe ich etwas essen. Natürlich ist hier alles teurer als im Dorf. Ich habe das Essen bezahlt und trinke nun doch noch einen Kaffee hinterher. Er kostet vier Mal so viel wie im Dorf. In Ordnung. Doch dann verlangt der Kellner noch mehr. Ich zeige auf den Preis in der Speisekarte. Darauf erhebt er eine Art Klagegesang und beschimpft mich. Schließlich knallt er mir das Rückgeld hin. Grußlos verlasse  ich das Restaurant.
Zum Schluss gehe ich noch einmal in die Klosterkirche und werde Zeugin, wie eine Angestellte eine Touristin hinaustreibt, die gegen das ausdrückliche und unübersehbare Fotografierverbot in der Kirche verstößt. Mit einem grünen Plastikbesen geht sie zischend auf die Frau los, schlägt nach ihr. Ob nach diesem Kehraus der heilige Geist doch wieder hier einkehren mag?


Der Freund des Poeten

Im Bus von Rila nach Sofia zeigt ein Mann seiner Sitznachbarin ein Buch. Er hat feine Gesichtszüge, eine weiche, leise, fast flüsternde und dabei etwas heisere Stimme. Sein Haar ist hellgrau über schwarz, er mag so um die 60 sein. Seite für Seite zeigt er seiner Mitreisenden das Buch, blättert langsam und bedächtig um, streicht über das Papier, erzählt dabei ohne abzubrechen. Dieses Buch muss etwas ganz Besonderes sein. Von meinem Sitzplatz aus, ganz hinten im Bus, kann ich erkennen, dass es ein großes Buch ist. Ich höre die Stimme des Mannes, die wie ein zarter Regen unablässig hinabrieselt über das Buch und seine Aura zum Blühen bringt.
Als wir in Sofia ankommen, stelle ich fest, dass die Endstation dieses Busses nicht der Busbahnhof ist, von dem aus ich eine Wegbeschreibung zu unserem verabredeten Treffpunkt habe. Über mein Handy ist gerade niemand zu erreichen. Also brauche ich Hilfe. Ich muss nicht lange überlegen, wen ich frage. Ich frage den Mann mit dem Buch, do you speak English? - Only a little bit. Das reicht. Er nimmt mich mit zur Straßenbahn, läßt sich Geld geben und kauft meine Karte. Er findet einen Platz für mich, stempelt die Fahrkarte ab und stellt sich so vor mich, dass ich und mein Rucksack gut stehen. Wir unterhalten uns ein bißchen. Er hat ein freundliches Lächeln, das zu ihm passt wie seine Stimme und das graue Haar. Dann holt er das Buch aus seiner Tasche, mitten im Gedränge der Straßenbahn und gibt es mir. This was my friend. He was a poet, erzählt er mir. Seite für Seite blättere ich und er erzählt. Es ist ein großes, liebevoll gestaltetes Buch, das die Lebensgeschichte seines Freundes enthält mit Familienfotos, Dokumenten, Handschriften und Gedichten. Das Buch ist ganz neu, er und seine Freunde haben es zu Ehren des Poeten herausgegeben nach dessen Tod. Nur ganz kleine Ecken zeugen davon, dass der Freund es schon oft in den Händen hielt und Seite für Seite zeigte.
Nun muss er aussteigen. Eilig nimmt er mir das Buch aus der Hand, verabschiedet sich und verläßt die Straßenbahn. Im Hinausgehen erklärt er mir noch einmal, in wievielen Minuten ich etwa aussteigen muss.



Reise nach Bulgarien,  Mai 2019, zum GOAT MILK FESTIVAL in Bela Rechka und zum Rila Kloster.
Siehe auch Video Poems im Post vom Juli 2019 und lyrik.



Ein Cedernduft

Menschen mit roten Koffern rattern
durch Seifenstraßen.
Auf ihren Hälsen tragen sie Fruchtköpfe in Zigarettenluft,
Birnen, Äpfel, Weintrauben, Feigen,
reif, unreif oder mit Runzeln zum Vergehen geneigt,
nicken, wackeln oder stehen sie aufrecht und steif auf den Hälsen.

Die Cigales halten den Atem an bis zum Sommer.
Kleine Celli hängen an ihren Flügeln, sie spielen unterirdisch.

In diesem Land glitzert die Sprache der Menschen in schnellen Bögen.
Vibrierend monoton bewegt sie sich fort; parfümierte Ameisen ziehen
im Flughafen-Hotel ihrer Wege über Geschirr und Schalen mit Knabbereien.

Der Blick aus dem sechsten Stock geht über Landschaften von Parkplätzen
mit Kolonien blecherner Küstentiere, über billigere und teurere Flughafen-Hotels mit
Plastikflamingos am Entrée und
das Meer.

Das Bett hält verschwitzten Schlaf und schwere Träume bereit, die sich
aus zu weichen Matratzen schütteln. Das Wasser in der Dusche wechselt die Temperatur
von kalt bis heiß und garantiert das Aufwachen am Morgen des Abflugs.

Alles ist schäbig, doch der Blick im sechsten Stock ist blau,
in der Nacht funkeln bunte Lichter, das Meer säumend.
Keine Mosquitos in dieser Jahreszeit, das Fenster steht offen.

Freundlich das braunhäutige Personal; über allem schwebt blauweiße Heiterkeit
wie das feuchte Wetter.

Hier ist die Kälte nicht zuhause und ich träume von einem Winterjob,
leichte Arbeit: einen Garten pflegen, Esel striegeln, mit Hunden spazieren gehen,
Räume mit Teppichen durchlüften und kostbare Vasen abstauben, dann am
Nachmittag, après-midi, nach einem leichten Rosé zum déjeuner, schreibe und zeichne ich das kleine, heitere Leben auf und liebkose den warmen Kern der Schwermut darin.

Träume und Einsamkeit, Freude und Fröhlichkeit reiben und umschlingen sich, nehmen ihre Hände.
Die unterirdische Musik der Cigales wird an die Oberfläche dringen, wenn ich gehe, um
wiederzukehren im nächsten Winter. Mit meinem beleidigten Genie, einer alter Jungfer, dankbar für jeden Trost und jede Schmeichelei und immer noch eifersüchtig die Bescheidenheit verschmähend.

Die Dame am Check-in trägt einen dezenten aber deutlichen Liebesbiss, perfekt platziert
über ihrem Halstuch in den Farben und mit dem Emblem der Fluggesellschaft.
Das Leben lächelt über die Anzeigetafeln mit verspäteten Flügen hinweg.

Im Duty Free probiere ich Cedern-Parfum und kaufe Verveine-Seife
im hübschen Blechkästchen.
Es geht in das Zuhause auf der anderen Seite des Flugs
vom leichten in den schweren Himmel.

Eine Weile hier, dann dort, ein Abschied, ein Kuss in die Luft.


2. Februar 2019


Fenster meines Lebens

Der Morgen ist ein Fenster zu anderen Morgen. Weit entfernt und nah wie eine Gebirgskette bei Föhn leuchten die Morgen der Jugend durch die Fenster hinein und erhellen mein Gesicht.
Ein heller Streifen am Horizont nach einer Nacht an der Autobahn bei einer Tramptour durch Süd- oder Ost-Europa. Ein Morgen, an dem ich von Kälte und Feuchtigkeit überzogen erwache mitten im  Geschrei von Vögeln, die sich zum ersten Rosa der Morgendämmerung in den Büschen des Nilufers am Rande der Wüste sammeln. Ich werde wieder einschlafen und dann, da ich immer zu lange schlafe, durchgeschwitzt und  mit einer schwarzen Hand vor den Augen unter der erbarmungslosen Wüstensonne erwachen.
Ein Sonnenstrahl dringt durchs Gebüsch, dort, wo ich mit einem anderen Tramper in einem Wäldchen vor einem Südafrikanischen Casino geschlafen habe. In diesem kleinen Land reisten wir einige Tage lang per Anhalter und sahen keine einzige Uhr, welche die Zeit anzeigte, so erinnere ich mich. Ein Fächer von Morgen entfaltet sich vor meinem inneren Auge. Morgen auf Waldböden bei Sturm und Regen, geschützt von Blattwerk und Ästen, Vögel und Wind riefen aus den Träumen und lockten in den angebrochenen Tag. Morgen Irgendwo im Nirgendwo in Europa, Asien, Afrika und Südamerika, in kleinen Hütten, an Stränden, in Höhlen. Morgen auf dem Bodensee, über den ich viele Jahre zur Schule pendelte, mich der behäbigen Fähre anvertraute und für diese verläßliche Zeiteinheit der Überfahrt beruhigt und fern meiner vielen Jugend-Sorgen und Nöte in Betrachtung der Wolken, der Berge, des Wassers bei jedem Wetter versank. Eine Zigarette an Deck.
Heute tragen die Wolken in der Morgendämmerung des fahlen Novembertages einen Strahlenkranz wie eine Schuluniform.
Ich gehe zum Arzt. Stehe mit meinem Gedichtband vor der Tür und lese im kühlen Licht der angrenzenden Eingangshalle der örtlichen Sparkasse. Ein Auto parkt neben meinem. Eine Frau steigt aus und kommt auf mich zu. Die müde Sprechstundenhilfe schließt die Tür auf. Sie hält den Türgriff, damit ich ihr folgen kann. Ohne Worte gehen wir die Treppe hoch. Sie öffnet noch eine Tür, hält sie mir auf, wir betreten die Arztpraxis. Ich nehme im Wartezimmer Platz, höre die Handgriffe aus dem Empfangsraum. Den Akkord des hochfahrenden Computers, das Rücken und Legen von Dingen, Möbel und Bürobedarf, Papier in seinen Geräuschvariationen. Ein Rezept ist ein flugfähiges Blatt, dem Blatt am Baum verwandt, mit Sehnsucht nach Stamm und Familie, geheimnisvoll raschelnd, wenn es aufgehoben oder hingelegt wird. Ein Papierstapel stößt dumpf auf wie eine Fähre an die Quaimauer. Über allem hängt damoklesschwertschwer die Erwartung des einsetzenden Telefonklingelns. Ratsch, im Wartezimmer wird der Rolladen hochgezogen. Die Sprechstundenhilfe hat die Augen immer noch halb geschlossen. Ich bin die erste Patientin. Mittlerweile hat sich ein Mann zu mir gesellt. Ich bin gut gestimmt, geduldig, gleich bin ich dran. Suche nach ein paar freundlichen Worten, als ich alleine mit der Sprechstundenhilfe im Labor bin. Unheimliche Ruhe aus dem Empfangsraum. Es ist mir, als höre ich das Geläute des Telefons in der Stille beben. Aus dem Teppich steigt es empor und an der Decke sitzt eine unsichtbare Spinne, die bald die Praxis einweben wird mit ihrem diiim-dim-dim-di-di-dim.
Mein Blut ist abgezapft, noch vor acht Uhr verlasse ich die Arztpraxis und gehe im gegenüberliegenden Edeka einkaufen. Ich scheine die einzige Kundin zu sein. Zwischen den Regalen stehen Kisten, deren Inhalt eingeräumt werden muss. Käse, Wurst, Tee, Kaffee, Schokolade, Puddingpulver, Gurke, Seife, Götterspeise, Milch, Honig, Senf und Klopapier, was auch immer wir konsumieren in dieser Gegend von Billigmarken bis zu Demeterprodukten. Ich habe die Idee Rollschuh zu laufen. Die Angestellten räumen die Regale ein, während ich im Slalom durch die Reihen schwinge, fröhlich die Telefonmelodie der Arztpraxis pfeifend. Ich stehe alleine an der Kasse. Die Kassiererin wartet nur auf mich. Wir lächeln uns an und wünschen einen schönen Tag. Das klingt jetzt noch frisch wie die dampfenden Brötchen hinter der Backwaren-Theke.
Vor der Apothekentür hippel ich herum und lächele durch die Glastür. Warum soll ich hier noch geschlagene zwei Minuten warten, bis es acht Uhr ist? Die Tür öffnet um Punkt acht.
Ich sollte jeden Morgen so früh losziehen. Die Wolken in Strahlenuniform leuchten mir den Weg zu Fenstern meines Lebens. Am Himmel lächelt ein flockiges Rosa aus dem Novembergrau hervor.

27. November 2018


Der Maler 
  
Er nahm den Pinsel in die Hand und ließ seine Finger über die etwas steife Spitze gleiten. Tauchte sie in ein Wasserglas, meinte es an seinen Fingern zu spüren, wie das Wasser kühl zwischen die Haare drang und die an ihm haftenden Farbreste löste. Den Pigmenten hatte er Kreide und etwas Gummi Arabicum beigemischt. Das Rosa duftete gleich einer süßherben Speise. Rosa, eine Farbe, die er zuvor als mädchenhaft verachtet hatte, zog ihn nun an, ebenso wie das leuchtende Türkis und das zarte Hellblau.
Doch heute mischte er Grau, denn das war die Farbe des Himmels an diesem Morgen über Paris. Die Sonne ging hinter dem Grau auf, hinter der Stadt, die sich unter ihm hinkauerte, in klammer Kühle verharrte, Haus an Haus, das Gewimmel kleiner werdend zum Horizont hin und sich dort in Grau lösend wie in schmutzigem Wasser.
Als ob sich das Leben nicht herauswagen wollte aus den Häusern, blieb die Stadt leer, Menschen waren kaum zu erkennen. Dennoch stieg ein Dröhnen aus dem Meer kleiner und größer werdender Gebäude zu ihm zum Trocadéro empor, zusammen mit Rauch in weiß-grauen Schwaden, aufsteigend von den wie mahnende Zeigefinger hervorstehenden Schornsteinen.
Das Grau umhüllte und benebelte ihn. Es war ihm nicht zu entkommen. Es wollte sich nicht erheben, nicht weichen, um der Sonne etwas Raum zu geben. Nur ein fahler Schein blieb vom Versprechen einer kleinen Wärme.
Er befühlte die Pinselspitze, das weiche Haar, wie die Spitzen von Sofies Zöpfen, bevor sie ihr Haar löste. Sofie, das écureuil, das Eichhörnchen, zierlich, klein und flink.

Seine Hand fühlte sich starr an, doch er musste den Himmel auf das Papier vor sich auf der Staffelei bringen. Er musste das Blatt erlösen, die Farbe befreien, sich selbst Atem verschaffen, indem er das Grau bannte. Die Finger tasteten das glatte Holz des Pinsels. Sofies Leib. Weiß, und nun eine Wolke schwarzer Vögel, die in seinen Gedanken kreiste. Der Morgen dröhnte, Novemberkälte umgab ihn fester als sein alter Mantel.
Er malte Grau. Grau zu Grau. Mehr Grau, mehr Wasser, mehr Farbe. Schwarz und Weiß strudelten durcheinander, vermischten sich auf dem Blatt, das unwillig die Schichten neuer Farbe ertrug. Ein undurchsichtiger, feuchter Himmel legte sich auf das schwere Papier. Es würde auch zuhause in seiner kalten Kammer noch lange nicht trocknen. Schlieren bildeten sich, vom Pinselhaar besänftigt. Sofies bräunlichrotes Haar schwebte durch seine Sinne. Fand sich nun in der Gestalt eines einsamen Vogels, der um das dunkle Gerüst des Turmes kreiste. Er war sich sicher, dass Sofie die Gestalt eines Vogel angenommen hatte.
Ein Schwarm schwarzer Krähen zerstörte die Einsamkeit des Vogels, wild schreiend zerschnitt der flatternde Pulk die Luft zwischen ihm und der Stadt. Wütend ergriff er den Pinsel und tunkte ihn ins Schwarz, zeichnete hastig dicke Striche ins Grau, quer in den Himmel. Dann wusch er den Pinsel, das Wasser verfärbte sich. Wie von selbst glitten seine Finger zum Hellblau, dann zum Blatt, dann wieder zum Wasserglas, dann zum Rosa. Er hielt inne. Ließ seinen Blick zum Turm und über die Weite der Stadt schweifen, folgte der Linie der Seine, die ein wenig Helligkeit abgab. Dann verfing sich sein Blick im Geäst eines kahlen Baumes, der ihm auf einmal seltsam nah erschien. Dahinter ließ der Himmel ein zartes Rosa erscheinen. Sofies Mund, Sofies Augen sahen ihn an aus diesem Himmel, der begonnen hatte zu fließen, zu strömen. Er ließ sich ergreifen, schüttete das Wasserglas neben seinen Mal-Schemel aus, füllte Wasser nach aus seiner Trinkflasche, reinigte den Pinsel, goss das Glas wieder aus und füllte wieder nach, bis das Wasser klar blieb. Dann tauchte er ins Rosa und zeichnete einen großen Kreis in den Himmel.

September 2018


Anekdoten

Drei Mini-Stories,
aufgeschrieben im Juli 2018


Die Katze holt den Vogel

Unser Kater hat wieder einen Vogel erwischt. Auch noch einen jungen. Auch noch während wir daneben sitzen, am Gartentisch, wie sooft mit dem kleinen, schwarzen Gesellschafter zu unseren Füßen. Aufgestellte Zipfelohren und hinten ein friedlich ausgelegter Schwanz, der wie aus seiner Mitte herausfließt und den Frieden der frühen Abendstunden unterstreicht gleich einem deutlichen, aber unaufdringlichen Pinselstrich mit schwarzer, chinesischer Tusche gemalt.
Dann springt er aufeinmal auf, mit geweiteten Augen, noch kreisrunder als sonst, außen gelb und innen ein schwarzer, chinesischer Tuscheklecks. Zack, hat er den jungen Vogel im Maul. Federn fügen sich in die Symmetrie der Schnurrhaare. Ach, dieser elende Jagdtrieb, muss er sich denn unbedingt auch auf Vögel erstrecken? Reichen denn die Mäuse nicht? Dazu das tägliche Futter: Lachs, Forelle, Lamm, Huhn, Truthahn, Pute als Herzen, Leber, Muß, Pastete, Soufflee, mit Gemüse oder ohne; alles, alles, was einen Katzenhunger stillt und ihn den grausamen Jagdtrieb vergessen lassen könnte. Doch wir wissen, wie dekadent und degeneriert dieses Haustierhalten und diese Gedanken sind. Tier ist Tier und Trieb ist Trieb.
Die Lider des kleinen Vogels im Maul unseres Katers klappen auf und zu; der Schnabel klappt auf und zu. Ich packe die Katze am Genick. Sie lässt erschrocken den Vogel fallen, und ich scheuche sie fort. Nehme den Vogel in meine Hand, er ist nicht einmal handtellergroß. Vielleicht ist er noch zu retten, vielleicht erholt er sich. Kein Blut, keine Verletzungen sind zu sehen.
Mensch ist Mensch, widersprüchlich grausam und gefühlsduselig, roh und empfindsam, eine unberechenbare Laune der Natur. Der Vogel atmet. Er hat Federn. Schwarz glänzen die Augen unter seinen ledrig grauen Lidern hervor. Schwarze Flusssteine voller Geheimnisse. Der Vogel, ein Bote des Himmels und der Luft. Federn: zarter Flaum, anrührend, fein, ins Ephemere deutend.
Dazu ist das Wesen in meiner Hand noch ein Junges, schutzbedürftig mit weichen Krallen, die niemandem etwas zuleide tun könnten. Das Vogelkind liegt in meiner Hand, kommt zur Ruhe, atmet, schaut, liegt, atmet. Und dann tut es einen großen, viel zu großen Atmezug für einen so kleinen Leib, spreizt die Flügel und sirbt.


Bounty und das Reh

Wir reiten den Waldweg entlang, die letzte Galoppstrecke. Ich vorne auf Bounty, meinem Quarter-Pony, hinter mir Anne auf der Brabanter-Stute Bijou. Aufeinmal ruft Anne: “Da ist ein Reh!”. Nur einen Augenblick später kreuzt das Reh den Weg vor uns.
Anne hatte es gesehen, wie es den Berg herunter lief, schräg auf unseren Weg zu. Sie dachte, ich sehe es auch. Doch ich habe es nicht gesehen. Und Bounty? Und das Reh? Haben sie sich gerochen, erkannt und stillschweigend geeinigt, wer Vorfahrt hat? Haben sie einen Wettlauf verabredet und es es auf einen Zusammenprall ankommen lassen? War es reiner Zufall? Oder sind die Wege und Zeitpunkte, an denen Reh und Pony kreuzen ein Glücksspiel der Waldgötter? Es mag sie ja wohl noch geben.


Abschiebung

In Hamburg am Bahnhof fragt mich ein junger Mann: “Können Sie mir helfen?”
Ich bleibe stehen. “Ja?” Er zeigt mir eine arabische E-Mail auf seinem Handy und ein Papier in seiner Hand. “Ich kann das nicht schreiben”, sagt der junge Araber und zeigt auf ein Wort auf dem Papier. “Können Sie für mich schreiben, hier, bitte?”, und er hält mir sein Handy hin. “Ja, gut.” Ich lese auf dem Papier das Wort: Abschiebung. “Nur dieses Wort”, betont der junge Mann. Dieses Wort kriegt er nicht in sein Handy, in die E-Mail an die Person, die es betrifft, oder die davon in Kenntnis gesetzt werden soll. Abschiebung. Ein Wort, bestehend aus elf Buchstaben des lateinischen Alphabets, mit großem A beginnend und endend mit kleinem g. Der Mann hat es versucht, doch sein Handy will das Wort nicht von selbst erkennen, und für ihn ist die Reihenfolge dieser elf Buchstaben einfach nicht auf die kleine Tastatur übertragbar. Er hat sich das Wort schon handschriftlich auf einen extra Zettel geschrieben: Der Abschiebung.
Ich kann ohne weiteres helfen bei dieser Angelegenheit. Was ist denn schon dabei? Ich tippe das Wort Abschiebung in die E-Mail. Buchstabe für Buchstabe erscheint es auf dem Display. Auf deutsch. In lateinischer Schrift. Einfach so. Das Wort riecht nicht, schmeckt nicht, aber es klingt. Spricht eine Sprache, ist ein Zeichen, ein Urteil. Dieses Wort ist schicksalshaft. Es kann über Leben und Tod entscheiden. Da steht es wie ein Polizist an der Kreuzung eines Lebens. An allen elf Buchstaben klebt ein Gewicht. Sie fügen sich zusammen zu einem Klumpen Blei. Sie riechen, schmecken, klingen dissonant, sind widerlich und sperrig. Sie wollen meinen Finger abstoßen, der unbarmherzig tippt, die Reihgenfolge der elf Buchstaben festlegend. Mein Finger wird zum Erfüllungsgehilfen des bleiernen Polizisten, der wiederum auch nur ein Vollstrecker des Gesetzes ist. Nur?
Dieses Wort, das ich da eintippe, kann alles bedeuten, doch es bedeutet alleine nichts. Es braucht ein Ja oder ein Nein, um gut oder böse zu sein. Daumen hoch oder Daumen runter. Alleine aber ist es neutral. Machtlos. Wie etwa die Wörter “Folter”, “Tod”, “Hinrichtung”. Sie verbreiten zwar ihren Schrecken alleine durch den Klang, doch ist dieser nur Auslöser für Phantasien und Projektionen. Ohne Ja oder Nein sind die Wörter nichts als Könige ohne Reich und Untertanen, Raubtiere ohne Beute, in der Wüste herumstreifende, hungrige Löwen. Mörder ohne Opfer, die in dunklen Nächten gierig und getrieben durch leere Gassen streifen.
Ich aber bin unschuldig. Ich helfe. Habe Verantwortung übernommen für den Transfer von elf lateinischen Buchstaben von einem Blatt Papier, ausgestellt von einem Amt, in eine E-Mail via Handy. Aschiebung von Buchstaben hinein in ein weltweites Netz. Und wohin?
Zum Schluss belehre ich den jungen Mann noch freundlich: “Es heißt: die Abschiebung; der Artikel ist die, nicht der.” Der Mann nickt. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat, aber das ist ja eine wichtige Sache. Zu so einem bedeutenden Wort muss man auch den richtigen Artikel kennen, das kommt gut an. Bei wem? Wozu? Was hilft’s? Der Mann drückt auf senden. Peng, fort und weg. Rein ins Netz! Es ist voller klebriger Fäden, in denen Spinnen sitzen, eine grandiose Menge, und auf Beute warten. Fliegen summen überall herum wie Spaceships im Worldwideweltall. Sie tragen Nachrichten wie Viren, und wo sie landen, gehen sie ins Netz. Immer wieder blinken Leuchtsignale auf in der Schwärze und Kälte des Weltalls, Zeichen, Wegweiser:  “Krieg”, “Gesetz”, “Politik”, “Abschiebung”. Es ist ziehmlich unüberschaubar für einen Finger an einer Tastatur zu wissen, wohin das Wort geht. Rein ins All! Rein ins Netz! Finde Deinen Weg! Es saust und schwirrt und brummt fern von unseren Ohren und landet irgendwo, fern von unseren Augen.
“Danke”, sagt der junge Mann, “vielen Dank!”.

 

Utrecht, 8. Februar 2018

Kleine Betrachtungen

Knorrige Bäume lehnen sich über sonnenbesprühte Grachten. Eine Gingerkatze mit kurzem Fell und weißen Pfoten lagert auf einem Kneipentisch hinter dicken, eingefärbten Butzenscheiben. Der Wirt kommt und vermasselt das Foto, weil die Katze den Kopf dreht, die Tatzen über die Tischkante spreizt und dann vom Tisch springt.


Ich gehe weiter, finde weißglänzenden Salbei im kleinen Garten, der vom Kreuzgang des Doms begrenzt wird. Die barock angelegten Buchsbaumhecken führen in die Mitte des Gartens. Dort steht ein Brunnen mit der Bronzefigur eines lesenden Mönchs, umringt von kleinen, wasserspeienden Teufelchen zu seinen Füßen. Der Mönch hat die Beine überschlagen, die Spitze eines spitz zulaufenden Schuhs ragt unter dem Gewand hervor. Das aufgeschlagene Buch in seinem Schoß ist sehr groß. Bibel, Comic oder Pornographie? Die Teufelchen mögen es wissen. Sie haben Fledermausflügel, ihre Schwänze gleiten zwischen Teufelskrallen hervor und fallen über den Rand der Säule, auf welcher der junge Mönch mit seinen Wasserspeiern sitzt und möglicherweise etwas Teuflisches liest.

Wieder raus, weiter durch die Straßen und an den Grachten entlang. Schaufenster und Fenster, die selbst auf die Straße schauen mögen. Die Aufschrift Denk dieper und daneben ein Sokrates-Zitat, aus milchweißer Folie herausgestanzt. Ein Fenster weiter informiert eine religiöse Gesellschaft über okulte Heilungskunde, wenn ich das richtig verstehe. Neben einer klobigen, aus Holz geschnitzten Frauenfigur mit einem runden, traurig wirkenden Gesicht: kleiner Mund, eingefallene Wangen über hochstehenden Wangenknochen und dicke, zu den Seiten herabsinkenden Augenbrauen, grünes Kleid und roter Umhang, den sie um den Kopf, den Hals und die Arme gewickelt hat, neben ihr also hängt ein großer, bemalter Fisch aus Pappmaché. Schröpfgläser, Mörser, Zangen und allerlei eingetrocknete Substanzen liegen zu Füßen der Figur. Zwischen den Dingen in der Auslage steht ein gerahmtes Bild von einer Prozession mit Mönchen in braunen Kutten, die eine Frauenfigur tragen. Maria Magdalena, so steht es da zu lesen.

Weiter die Gracht hinunter finde ich ausgestopfte Fledermäuse, kopfüber hängend, Ansammlungen kleiner Schädel von Nagetieren und den Plastikkopf eines Schwarzen mit ausgestreckter, rosa Zunge und der Aufschrift: SMILING SAM FROM ALABAMA/ THE SALTED PEANUT MAN. Der Preis klebt auf dem kahlen Kopf. Zwei schlacksige Wheeler-Dealer verlassen den Laden und schließen ab. Freakbrothers pervers. Ach ja, ab und zu weht Haschgeruch über das Kopfsteinpflaster und die Grachten. Angenehmer Beruhigungsdunst für eine insgesamt überspannte Gesellschaft. Was noch? Was gehört zu Holland wie das Hasch?

Fietse natürlich. Fietse-Heuschrecken, Fietse-Echsen, Fietse-Fledermäuse, Propeller-Fietse, Rumpel-, Gleit- und Rappel-Fietse.

Außerdem: Kunst und Kitsch in den Schaufenstern und an den Wänden der Räume dahinter. Von den feinsten Exponaten in Öl auf Leinwand oder Bronzeskulpturen bis hin zu hölzernen Tulpen in den Souvenirläden. In der Fine- Art-Galerie sitzt eine feine Frau am Computer hinter einem schwarzglänzenden Tisch. Ihre Fine- Art-Only-Aura strahlt durch die einbruchsichere Scheibe bis hin zu mir, die ich scheu und ehrfürchtig die riesenhafte Eule aus edlem Holz betrachte. Ihre mächtigen Flügel sind von elegantem Schwung, unpassend zueinander. Mit dem einen Flügel steht die Eule, mit dem anderen fliegt sie, so dass die Flügel einen rechten Winkel bilden. Das Gesicht der Galeristin ist in Wahrheit das der Eule, spitz und aggressiv. Die Eule trägt eine runde Maske aus indischem Sandelholz.Wie das duftet! Davor duftet verführerisch eine halb entblößte Mandarine in Öl auf Leinwand. Ihre Schale ist ein frivoles Kleid, das gleich den Schwänzen der wasserspeienden Teufelchen über die mit dickem, roten und godbesticktem Brokat verhüllte Kante des Tisches fällt, an der sie, die Mandarine, lasziv lagert, eingewickelt in ein weißes, luftiges Gespinst aus Mandarinenfäden. Der Hintergrund: schwarzglänzend wie der Tisch der blonden, hochgewachsenen Galeristin. Tausend wissende und lüsterne Teufelchen grinsen aus dem tiefen, hermetischen Schwarz der Ölfarbe.
 

Der knorrige Baum an der Gracht vorm Café trägt eine Lichterkette. Die kleinen Lichtpunkte fangen schon an zu glühen, obwohl es noch hell ist. Hunderte Teufelsaugen schweben kichernd über die Gracht, während ich meinen Kaffee genieße.

 


Alice
7 Episoden

Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben und illustriert von der Autorin im August 2017

1. Episode

Abend im Frühjahr
Wetterwechsel,

hat er zu Alice gesagt, sei nicht gut für ihr Gehirn.
Dieser Doktor Grau hat Theorien, die eigentlich niemand nachvollziehen kann; aber davon weiß Alice natürlich nichts.
Bei diesem wunderschönen Sonnenschein wandert sie im Garten herum. Sie sieht reizend aus, ihre zierliche Gestalt in nettem Kleidchen mit bunten Bändern verziert. Doch der Kopfschmerz fasst jeden Gedanken wie mit Zangen an und drängt ihn in die entlegensten Ecken ihres hübschen, lockenbedeckten Schädels.

Doktor Grau gab ihr Tabletten, die sie mit diesem blauen Wasser aus dem Brunnen im steinernen Vorgarten herunterspülte.

Allmählich geht das Kopfweh weg, aber auch die Gedanken verblassen, verschwinden.

Am Nachmittag kommt die Katze.

Verlorene Erinnerungen sind nicht verloren; irgendwo bleiben sie im Körper gespeichert.
Die Gedanken sind verwandelt. Labile Gestalten.

Alice ist beinahe schmerzfrei.
Die Katze streift um ihre Beine. Der Schnittlauch blüht, Iris, Erdbeeren, Klee. In diesem Frühjahr blüht alles auf einmal.
Primeln, Rosen, Astern.

Alice steht im Garten, schmerzlos, erinnerungslos, gedankenverloren. Sie möchte gerne wurzeln, in die Erde hinein.
Ihre Füßchen stehen nebeneinander wie Geschwister. Sie spreizt die Zehen und gräbt sie in den Boden.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nacheinander ein.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nochmals ein. Dann sinken die Fußsohlen, diese überaus empfindlichen Körperteile, in den Grund. Langsam, wie zwei Kähne, die sich allmählich durch ein Leck mit Wasser füllen.

Die schwarze Katze schaut Alice gelbäugig zu. Doktor Grau hat ihr Milch gegeben.
Sie leckt einen feinen Milchbart ab.

Alices Füße stecken bis zu den Fußgelenken in der kühlen, lehmigen Erde. Sie spürt kraftvolle Muskelkontraktionen an der empfindlichen Haut ihrer Fußsohlen. Erster Kontakt mit Regenwürmern. Berührung: glatt, gerillt und kräftig.
Alice wird tiefer gezogen. Sie spürt einen Sog. Ihre Fersen ähneln Wurzeln, Knollen, Pflanzenzwiebeln, wie sie nun unter der Oberfläche stecken, und aus ihnen wollen zwei Waden wachsen, zwei weiße Beinchen als Stiel einer Pflanze. Es treibt aus diesen Fersenknollen, zieht in Alices Sehnen, Waden, Knien, hinauf und hinunter.

Alices Nerven werden zum feinen Wurzelgeflecht.
Brennnesseln sind wie Zündschnüre, ziehen sich unberechenbar, lang und dünn durch das Erdreich. Kriegerinnen, Amazonen mit Giftpfeilen.
Alice findet das Gift der Brennnessel sehr belebend, es bekommt ihr. Vielleicht ist sie eine Amazone.

Löwenzahnwurzeln stecken wie Pfähle im Grund. Fest und glitschig. Sie weisen in die Tiefe. Tiefenmesser. Erdwächter.

Alice biegt ihren Körper zurück, hält ihr Gesicht dem blauen, von schneeweißen, strahlenden Wolken bevölkerten Himmel entgegen.
Ihre Augen sind voller Wasser, aus einem Mundwinkel rinnt ein dünner, sämiger Speichelfaden. Aus ihren Wangen weicht das Blut. Sie spreizt ihre Finger, dreht die Handinnenflächen nach oben. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt die Luft die Fingerchen. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt sie nochmals die Fingerchen und die ganze Hand, und dann die ganze andere Hand.
Nun zieht die Erde kräftiger an Alice. Sie nimmt ihre Waden.
Alice zittert vor Aufregung, Freude, Angst. Sie öffnet den Mund. Die gelbbraunen Locken hängen von ihrem Kopf wie wildes Gras; sie wachsen der Erde zu.

Die Katze gähnt. Sie öffnet ihr Katzenmaul mit den spitzen Zähnen. Die gelben Augen blinken wie Leuchtturmfeuer darüber hervor.

Alice kennt nicht jede Wurzel, jedes Tier. Nicht alle sind ihr angenehm.
Da Nacktschnecken und Spinnen. Dort Waldmeister, Minze, Holunder.

Alice sinkt.

Die Katze setzt sich auf den Boden und reckt ihren Hals in Katzenart. Sie schaut und stellt die Ohren auf. Ihre Schnurrbarthaare bewegen sich in einer leichten Brise.

Alice spürt sich fest gehalten, eingesogen. Die Erde steigt über ihre Knie, an ihren Schenkeln empor. Eine krümelige Masse. Ein starker Geruch geht von ihr aus.
Alice schließt die Augen. Der Kopfschmerz ist vergessen.
Doch sie ist einer Ohnmacht nahe.

Die Katze spreizt ihre Pfoten. Für einen kurzen Moment werden die Krallen sichtbar.

Ein taumeliges Gefühl erhebt sich in Alices Kopf. Möglicherweise von dort, wo Erinnerungen kauern.
Aus Alices Kehle dringen eigenartige Laute. Unbekannte Naturlaute.
Die Erde duftet. Sie steigt weiter an ihr empor. Berührt sie, wo sie noch nie so stark berührt wurde. So direkt. So dringlich.
Erstmals sieht die Katze sie an. Es ist ihr, als würden sich die Katzenaugen zu Schlitzen verengen, während ihre eigenen Augen sich wie von selbst weiten. Sie spürt, wie Flüssigkeit aus ihren Augen dringt. Milch fließt aus ihnen hervor und läuft wie ein Wasserlauf in ihren Mund, mitten in ihren schweren Atem hinein.

Die Katze schaut aufmerksam zu.

Alice steckt bis zur Hüfte in der Erde. Ihr Kleid ist glockenförmig um sie herum ausgebreitet, die Bänder liegen lose darauf. Sie sieht nun aus wie eine Blume auf der Wiese. Rittersporn, Pfingstrose, Pusteblume, Alice.
Schmetterlinge trudeln durch die Luft.

Alice legt die Hände auf die Erde. Sie atmet etwas ruhiger.
Aus ihren Augen strömt unentwegt Milch.

Die Katze leckt sich das Mäulchen.

Ein Schmetterling fliegt um Alices Hand. Der Wind berührt ihr Lockenhaar.

Es hatte so lange geregnet. Viele Wochen lang. Kein Wunder, dass Doktor Grau Alice immer neue Medikamente gab, um ihre Stimmung aufzuhellen.
Alice nahm sie gerne, denn nur dann durfte sie zu ihrem Brunnen im steinernen Vorgarten gehen und die Medikamente mit dem köstlichen, hellblauen Wasser daraus herunterspülen.

Der strahlend blaue Himmel heute ist eine Sensation.
Blank gewaschen wie Alices Gesicht.

Die Katze lässt sich vom Schmetterling ablenken. Ihre Ohren zucken.
Wie sie nun weiter in die Erde hineingezogen wird, beginnt Alice zu singen.
Die Laute dringen aus ihr hervor wie die Milch aus ihren Augen. Langsam muss sie die Arme heben, als ob die Mutter ihr das Kleidchen ausziehen wollte. Die Erde erreicht bald Brusthöhe.

Alice sieht auf einmal die Dunkelheit des Erdreichs vor sich. Wie von selbst singt sie lauter. Manchmal schnappt sie nach Luft. Es wird dunkel sein unter der Erde. Ganz sicher ist es dort dunkel. Dunkel wie die tiefste Nacht. Die Erde besteht aus tausend schwarzen Katzen mit Erdfell und Wurzelkrallen.
Alice zückt Pfeil und Bogen und spuckt Brennnesselgift auf den Pfeil. Sie will sich bewegen, drehen. Auf einem Erdpferd reiten. Einem Licht entgegen. Es muss doch Erdlichter geben! Unterirdische Höhlen mit Leuchtern, an denen Erdlichter brennen.
Der Lehm wird ihr zu aufdringlich um ihren Körper herum.
Zu dominant. Mit kühler Gewalt umschließt er ihre Brust, ihre Seiten, ihren Rücken. Sie ist gefangen in der Erde. Ihre Knochen stecken in ihrem Körper fest. Das Erdreich umgibt sie unausweichlich. Was, wenn es sie loslässt?
Alice denkt nicht mehr.

Die Katze legt sich hin. Dreht ihren Kopf zur Seite und bettet ihn auf den Pfoten. Will sie einschlafen, oder kann sie Alice so besser beobachten?

Wolken ziehen über Alices Kopf. Schafe, Drachen, Hyazinthen, Disteln, Menschenfresser, Felsen, Gänseblümchen.

Nun steckt Alice bis zum Hals in der Erde in Doktor Graus Garten.
Seine Theorien sind null und nichtig.

Alice weint Milch und singt. Ihr Gesang klingt wie der eines kleinen Vogels mit einem großen Hall. Er zieht in den Halbschlaf der Katze.
Es ist, als ob sich die Luft von der Erde erhebt. Alice muss in einer Ohnmacht sein, sonst würde sie schreien. Die Grasspitzen berühren ihre Achseln, die zusammen mit den Schultern gefressen werden. Die Erde muss sich anstrengen, das Mädchen nun ganz in ihren Schlund zu ziehen. Sie zieht, saugt, drückt. Es ist eng und unangenehm. Alices Kleid, das auf dem Gras um sie herum ausgebreitet liegt, ist in Milch getränkt. Ihr Gesicht ist schneeweiß.
Sie ist taub und schmerzfrei, erinnerungslos.

Doch dort, unter der Erde, beginnen Erinnerungen in ihrem Körper zu erwachen. Sie tragen Pfeil und Bogen und Löwenzähne. Sie haben wildes Fell und Erdkörper. Noch sind sie klumpig und klobig.

Die Katze schläft, während Alices Gesicht im Grund verschwindet. Das Kinn berührt die Erde. Der Mund füllt sich, die Zunge wird zu Lehm. Die Nasenspitze, die Nasenlöcher, der Nasenrücken verschwinden zusammen mit den Wangen und den Ohren. Augenhöhlen, Augenbrauen, Stirn und zuletzt die Haare, der Scheitel entweichen dem Blick der tanzenden Schmetterlinge, der Luft, der Wolkenaufsicht.

Der Wind muss nun auf Alices Locken verzichten.

Die Katze schläft tief.

Es blühen Klee, Rittersporn, Adonisröschen, Ginster.

Die Welt um Alice kippt unmerklich, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
Das ist Alices Zauberei, unwissend legt sie den Schalter um.
Doktor Grau ahnt nicht, dass alle seine Tabletten nie wirkten.

Keine einzige hatte je Einfluss auf Alices Magie. Allein das blaue Wasser aus ihrem Brunnen verlor nie seine Wirkung.

Alice hat den Schalter umgelegt, und die Erde ist zu Wasser geworden. Wale, Fischschwärme, Haie und Seepferdchen ziehen um Alice herum, die in einer großen Weite schwebt und gleitet. Sie schwimmt, ein Mädchenfisch, bewegt sich mit den Strömungen.
Die Erinnerungen verlassen Alice und nehmen die Gestalten von Meerestieren und Pflanzen an. Regenwürmer sind zu Seepferdchen geworden, Nacktschnecken zu Thunfischschwärmen, Spinnen zu Krebsen, Kraken, Rochen. Korallenriffe gleichen buntem Wurzelwerk.
Unendlich reich und tief ist der Ozean. An seiner Oberfläche tanzen Schaumkronen wie die weißen Wolken über dem Horizont.

Alice hat Doktor Graus Garten verlassen. Der abendliche Wind hebt ihr Kleid vom Boden auf und trägt es hoch in die Luft. Dort segelt es mit den weißen Wolken, den Drachen, Menschenfressern, Pusteblumen, Felsen und Erdreitern bis übers Meer.

Einzelne Milane kreisen über dem verlassenen Garten, in dem noch ein Brunnen steht. Das hellblaue Wasser spritzt in einer hohen Fontäne in die Luft, schimmernd in der Abendsonne.

Die Katze wacht auf. Sie gähnt, reißt ihr Mäulchen auf, erhebt sich. Streckt ihre Glieder aus, nach vorne, nach hinten, spreizt die Tatzen, fährt die Krallen aus und wieder ein. Dann wandert sie durchs Gras davon auf Katzenart.



(c) Eva Wal, VG Bild


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Die Prozession


Gerade riecht es nach Pferdeapfel und Sauerkraut. Ein leichter, fast verbotener Dunst durchweht das ansonsten stets von Unwillkommenem gereinigte Dorf. Die zwei Pferde auf der Koppel, die sich fast nur durch die Farbe des Grases vom glatt gefegten Dorfpflaster unterscheidet, haben die Ohren aufgestellt. Aufmerksam scheinen sie den Gebeten und Gesängen vor dem Elektrozaun zu folgen. Der Kirchenchor erklingt in sanfter Kakophonie zu den Kirchenglocken, die mitten in den Gesang hinein schlagen. Sie müssen eben die Uhrzeit verkünden zu jeder Viertelstunde und können keine Rücksicht nehmen auf die sorgsam einstudierten Akkorde mit den durchaus anspruchsvollen Harmonien der Fronleichnams-Liturgie. Höchstens ein oder zwei Frauenstimmen stehen klirrend hervor in den oberen Lagen. Ich erkenne die vorbildliche Sorgfalt und Sauberkeit, die hier in diesem Ort überall zu schalten und zu walten scheint, als habe der Herrgott den Menschen in Niederalteich ein besonderes Gen gegönnt.

Von den vier Geistlichen in schwarzen Talaren habe ich zwei schon gesehen. Den großen, breitschultrigen, aber schlanken Bruder mit dunkler Hautfarbe, Brille, Bart und grauen Locken und den Jüngeren hinter ihm, neben einem kleinen Dicken mit fromm nach vorne abgeknicktem Halse stehend. Der Jüngere ist ebenfalls groß und schlank, fast hager, und auch er trägt Brille und Bart. Dieser Bart aber ist lang und dünn, spitz zulaufend und nach vorne leicht abstehend.
Neulich habe ich dem Bruder von meinem Lieblingsplatz am Brunnen im Klosterhof aus zugesehen, wie er einen Tannenbaum beschnitt. Er trug Shorts und T-Shirt und stand mit einer Leiter und einer großen Baumschere am Baum. Vor jedem Schnitt ging er einige Schritte rückwärts, immer den Baum im Blick behaltend und ihn teilweise dabei umrundend, um das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Die Tanne war nur um etwa die Hälfte größer als der Gärtner und glich in ihrer Form seinem Bart. So, dachte ich, könne dieses Unterfangen schon gar nicht misslingen.

Nun ist das Gebet am ersten Altar der insgesamt vier Altäre der Fronleichnams-Prozession, jeder in eine andere Himmelsrichtung zeigend, beendet, und Böllerschüsse werden abgefeuert. Die Pferde reagieren nur leicht unruhig. Eines, das Mokkafarbene, Helle, könnte ein Norweger oder ein Wildpferd sein. In der Mitte seiner wie eine Bürste hoch stehenden Mähne trägt es noch die Wildpferdezeichnung, den dunklen Strich in Fortführung des Rückgrats. Stolz und friedlich sieht es aus, wie es da mitten im Dorf auf seiner raspelkurzen Weide steht. Ich glaube fast, es hat sich selbst frisiert! Ein Wildpferd mit bayrischem Gen?
Wo ist denn das Wilde? Das Bunte, das Unterschiedliche? Freundlich ist es hier, oft werde ich auf der Straße und sogar
Auch ich suche Ruhe hier; ich genieße die Sauberkeit und Ordnung und will nicht gestört werden in meinen Betrachtungen und bei meinen Aufzeichnungen. Doch dann und wann bringt mich diese Ordnung durcheinander. Ich schüttele meine Mähne und trabe davon, ans Ufer. Ans Ufer dieses breit fließenden Flusses, grün und weiß glitzernd wie der Strassschmuck auf den Steinen in den Gärten und auf den Gräbern im Ort. Aber nein, es sind funkelnde Reflexionen des Sonnenlichts! Hier wohnt Schwester Wasser mit ihrem langen Uferhaar, den hoch stehenden Gräsern mit Wiesenblumen darin, die sich frei im Wind wiegen. Jeden Monat versammelt man sich hier an diesem Stein zum Donaugebet, auf dem eingraviert zu lesen steht: Gelobt seist Du, mein Herr, durch Schwester Wasser… Und darunter: Sonnengesang Hl. Franziskus.

Die Blaskapelle spielt. Die Prozession bewegt sich weiter, dem Ufer zu. Die Mädchen und Jungen in weißroten Ministrantengewändern gehen neben dem Diakon vor dem gold verzierten Baldachin aus schwerem Brokat her, neben dem der Abt mit goldenem Stab schreitet. Doch zuerst kommen die Vereine, die Freiwillige Feuerwehr und die „Schnupfer“, alle im Gleichschritt und mit ernster Mine. Gut Flug steht auf dem Schuppen des Taubenzüchters am Weg. Hier sitzen überall die schlanken Brieftauben, und das Gurren dringt aus jeder Ritze nach außen. Auf der dunkelvioletten Samtfahne der „Schnupfer“ ist neben einer entsprechenden Illustration zu lesen: Nehma Uns A´ Frische Pris. Das hat wohl gerade einer getan. Plötzlich ertönt so ein lautes, unbändiges Niesen, dass alle Tauben, die nur an die Böllerschüsse gewöhnt sind, auffliegen und zum Gleichschritt der Blaskapelle davonflattern. Im Schnabel halten sie das Niederalteicher Gen, das sie nun in alle Welt tragen wollen.

Doch erst fliegen auch sie zum Fluss, wo schon die mit Pappelzweigen und Blumen üppig geschmückte Donaufähre auf die Ankunft der Prozession wartet. Endlich erreicht diese singend und schreitend das Ufer. Die Kirchturmglocke hat wieder geschlagen, der Diakon besteigt mit seinen Ministranten Weihrauch schwenkend die Fähre, die daraufhin ablegt und nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt direkt in der Strömung stehen bleibt. Der Herr Jesus könnte das bequem zu Fuß gehen. Nun hören wir alle die Worte des eben genannten Jesus aus dem Munde des Diakons, verstärkt durch nur selten knacksende und rauschende Lautsprecher, die ein Ministrant an einer Gürtelkonstruktion um den Körper gebunden trägt. Es scheint, dass gerade wir, Wildpferde und Brieftauben, besonders mit angesprochen wären und uns wieder unserer Natur besinnen sollten.
Seht ihr die Vögel auf dem Feld? Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der Herrgott ernährt sie doch. Und seht ihr die Lilien auf der Wiese? Kein König hat ein so prächtiges Gewand wie sie… Doch da, als der Pfarrer geendet hat, ertönen die Böllerschüsse aus einer echten Kanone vom Ufer, und bald setzt sich die Prozession wieder in Bewegung und geht wieder zur Kirche, um dann endlich den Feiertag zu feiern mit reichlich Bier und Wurscht und einer guten Prise zum Klosterlikör. Die Brieftauben aber kehren in ihre Verschläge zurück und lassen das Niederalteicher Gen wo es hingehört, nämlich hier an diesen Ort, und ich…? Ich schüttele die Mähne und trabe davon, flussabwärts mit dem Lauf der Donau und dem wehenden Haar von Schwester Wasser.

Niederalteich, Juni 2017


In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist
oder
Den Mutigen gehört das Glück


Es ist harte Arbeit. Jeden Tag. Brett an Brett an Brett. Schleppen und nageln und stecken, und nichts wird einem abgenommen bei keinem Wetter. Ich stöhne. Hoffentlich hört mich niemand, denn das wäre gar nicht gut. Jammern ist hier nicht. Das geht gar nicht.
Diese Bretter, so sagt man, bedeuten die Welt. Na ja. Wir versuchen, uns die Welt so passabel wie möglich zu machen. Im Menschenleben ist’s wie mit dem Würfelspiel: was der Zufall nicht zur Zufriedenheit bestellt, muss die Kunst verbessern, oder so ähnlich. Das sagt Paolo, der den Flavio spielt. Paolo weiß alles und das nicht nur besser, sondern immer am besten. Er ist unser größter Künstler, der Leiter der Truppe, aber auch ein ganz schöner Angeber, finde ich. Meine Schwester allerdings findet das nicht, ich meine das mit dem Angeben. Sie ist wohl, wie fast der gesamte weibliche Teil der Truppe, in Paolo verliebt. Zum Glück bin ich ein Junge, kann ich da nur sagen. Da bleibt mir wenigstens das erspart. Paolo sieht verdammt gut aus, das muss ich zugeben. Es wundert nicht, dass er immer die Hauptrolle spielt, also den Liebhaber, der nachher die schönste Frau kriegt, also meine Schwester, hahaha. Natürlich nicht! Meine Schwester ist hässlich wie die Nacht, so wie ich auch - das behaupten zumindest alle. Aber für ein Mädchen ist das nicht so schön. Besonders nicht für ein verliebtes Mädchen wie meine arme Schwester. Schlimm, sage ich, es ist schlimm für sie!
Meine Schwester spielt den Diener von Flavio. Mit Maske und Kostüm, da merkt man nicht, dass sie ein Mädchen ist. Und sie kann ihre sowieso recht tiefe Stimme noch tiefer stellen. Sie kann auf der Bühne als Mann echter wirken als ein echter Mann. In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist, so spricht Petronella, meine Schwester. Eben. Auf der Bühne heißt sie Pedro.
Als Pedro, Flavios Diener, kann sie ihm wenigstens nahe sein. Alle finden, dass sie es toll macht. Ich finde das auch. Sie kann fies und gemein sein zu allen außer natürlich zu Flavio, ihrem Herrn, und sie denkt sich Sprüche aus, auf die sonst niemand kommt. Außerdem singt sie wunderschön. Deshalb hat uns die Truppe aufgenommen. Meine Schwester, und mich zum Glück auch. Den Mutigen gehört das Glück, hörte ich neulich jemanden ausrufen. Und mir gehört das Glück, weil ich eine Schwester habe, deren Mut und Talent für uns beide reicht.
Ich bin verliebt in meine Schwester. Nicht weil ich sie schön finde, als einziger Mensch auf der Welt finde ich sie schön, sondern weil sie so schlau und toll und gut ist. Sie kann auf der Bühne so gemein und fies sein, dass man sich wirklich nicht vorstellen kann, wie warmherzig sie im echten Leben ist, zumindest zu mir. Sie ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine Mutter. Zumindest glaube ich das, weil ich mich an unsere echte Mutter nicht erinnern kann. Aber was ist das echte Leben? Was ist eine echte Mutter?
Paolo sagt uns allen, was wir spielen sollen. Das heißt, er erfindet die Stücke, mit denen wir auf der Bühne das Publikum amüsieren. Gäbe es Paolo nicht, gäbe es uns alle nicht, zumindest nicht als Truppe. Paolo sagt, und das gefällt mir wirklich, dass seine Stücke das Leben schreibt. Also nicht er, sondern das Leben schreibt unsere Stücke? Hahaha, was nützt es uns, wenn das Leben die Stücke schreibt? Wir können ja alle nicht lesen, geschweige denn schreiben, nicht einmal Paolo! Außerdem bezweifle ich, dass das Leben wirklich schreiben kann… Also so, wie ich jetzt vor mich hinrede, könnte es auch genauso auf der Bühne zugehen. Die Leute lachen dann, weil sie meistens genau das am witzigsten finden, was niemand verstehen kann. Das glaube ich zumindest. Und sie lachen natürlich, wenn sich jemand besonders doof und tollpatschig aufführt - wie zum Beispiel ich, Giovanni. Zum Glück ist mein Part nicht sehr schwer und dauert nicht lang. Ich habe nicht mal einen eigenen Namen auf der Bühne. Den Faulen und Dummen wie mir gehört vielleicht auch ein bisschen das Glück, hahaha.
Also ich komme auf die Bühne, mit einem Sprung. Das ist überhaupt das schwierigste, weil die Bühne fast so hoch ist wie ich. Und deshalb schaffe ich es eben nie, sondern falle hin. Jedes Mal, ich lerne es nie. Da lachen dann alle, und das ist immer gut. Ein lachendes Publikum bringt Geld, und von Geld hängt unser Leben ab. Nicht Zeit ist Geld, sondern ein lachendes, am besten grölendes, geiferndes, aufgebrachtes und nachher zufriedenes Publikum.
Denn gezahlt wird immer erst im Nachhinein, und da muss man höllisch hinterher sein, dass die Leute nicht gleich abhauen und uns nichts geben. Unser schönstes Mädchen wird immer losgeschickt, um das Geld einzusammeln.
Wenn ich dann auf der Bühne aufgestanden bin, reibe ich mein Bein, meine Knie, wo ich eben drauf gefallen bin- und verdammt, es tut wirklich jedes Mal richtig weh. Deshalb mache ich ein ganz schmerzverzerrtes Gesicht dazu, und dabei muss ich nur ein kleines bisschen übertreiben, weil es mir ja wirklich weh tut. Ich spiele also gar nicht richtig, aber bei mir ist das egal, weil ich nur für die dummen Lacher, wir sagen die Lazzi, da bin. Dann stolpere ich so rum und schubse dabei ein anderes Kind, meinen Freund Terenz, weg. Er trägt aber gerade einen Sack Mehl, der ihm dann natürlich herunterfällt. He!, schreit er mich an, pass doch auf, Du Dummkopf! Terenz hat ganz schwarze Haut, deshalb hat er nichts zu sagen. Ich weiß zwar nicht so richtig warum, aber die schwarze Hautfarbe bedeutet, dass er nicht Recht haben kann und viele ihn schlecht behandeln. Auch in unserer Truppe. Vor allem Flavio im Spiel, aber auch Flavio-Paolo, wenn die Vorstellung vorbei ist. Deshalb kann ich Paolo nicht leiden, denn Terenz ist mein Freund. Und ich bin so froh, dass meine Schwester Petronella diesen Paolo-Typen nicht kriegen kann!
Ob das Leben auch diese komische Sache aufschrieb, dass Schwarze schlechter sind als Menschen mit hellerer Hautfarbe? Und ob irgendwo auch geschrieben steht, dass die Menschen je mehr Geld haben, desto mehr ihre Hautfarbe der Farbe des Mehls gleicht? Und dass, wer am meisten Geld hat, auch immer Recht hat? Ob es denn wahr ist? Das höchste Recht ist die höchste Bosheit, habe ich gehört. Also ich weiß nicht, aber irgendwann möchte ich das alles einmal lesen können, was so geschrieben steht…
Auf der Bühne tue ich nun so, als fände ich Terenz minderwertig, und ich rufe spöttisch: Ha! Was ich darf, das darfst du noch lange nicht! Dabei betone ich das ICH kurz und spitz und dehne das DU ganz lang aus und mache eine Melodie darauf. Dann haue ich ihm eine runter, richtig so, dass es klatscht. Tut mir echt leid, aber ich muss es eben tun. Terenz geht dann auf mich los, und wir raufen uns. Und dann? Ja, natürlich! Wir fallen zusammen auf den heruntergefallenen Mehlsack und wälzen uns im Mehl, dass eine richtige Wolke über der Bühne aufsteigt. Dabei darf Terenz mich ein bisschen mehr stoßen als ich ihn, damit wir quitt sind wegen der Ohrfeige. So hält unsere Freundschaft besser. Und wenn wir dann aufstehen, Terenz und ich, beide eine Faust in den Haaren des anderen, zeigen wir uns dem Publikum, und das Publikum kreischt, weil vor allem Terenz mit dem Mehl im schwarzen Gesicht wahnsinnig lustig aussieht. Wir lassen uns nicht los, bis wir von der Bühne gehumpelt sind. Dabei kicke ich Terenz noch mit meinem maladen Knie in den Arsch, und das tut - zur Strafe - mir mehr weh als ihm. Das Mehl spüren wir in unseren Augen und Nasen bis zur nächsten Vorstellung. Wir hassen es! Es juckt und juckt, und unsere Augen sind immer rot davon und die Nasen verstopft. Wir haben schon ernsthaft darüber nachgedacht wegzulaufen, nur wegen der Sache mit dem Mehl. Aber das geht nicht - wegen meiner Schwester. Und dann haben wir überlegt, Paolo nachts einen Sack Mehl über den Kopf zu ziehen und zu warten, bis er erstickt ist. Aber das geht nicht, wir brauchen ihn ja für die Truppe. Eigentlich schäme ich mich dafür, dass wir daran gedacht haben, uns so niederträchtig an Paolo zu rächen. Aber Terenz meint, das sei menschlich. Er sagt dann: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd. Und er sagt es sogar auf Latein, das ist die Sprache der alten Römer, unserer Vorfahren. Diese Sprache sprechen die Gelehrten und die von der Kirche, die uns nicht mögen, und mein Freund Terenz kann diesen Spruch auf Latein sagen: Homo sum, humani nihil e me alium puto. Das ist aber nicht aus unserem Stück. Hahaha!

Eine kleine Geschichte zur Commedia dell’Arte
 Anmerkung: Kursiv gedruckte Aphorismen* nach Terenz, eigentlich Publius Terenzius Afer, einem antiken Lustspieldichter, ca 195 -159 v. Chr., dessen Komödien in der Renaissance wiederentdeckt wurden und auch Stoffe boten für die Commedia dell’Arte.
Terenz kam als Sklave nach Rom. Er hatte das Glück, wegen seiner offensichtlichen Begabung ausgebildet und freigelassen zu werden. So nahm er den Namen seines Herren, Terentius an. Der Beiname Afer bedeutet Afrikaner.
Aus dem Aphorismus Was ich darf, das darfst du noch lange nicht, wurde im Mittelalter der Reim: quod licet Iovi non licet bovi. Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. 
* außer: In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist: Stanislaw Jerzy Lec, polnischer Schriftsteller (1909-66)
* Zeit ist Geld: Benjamin Franklin, erschienen 1748 in seinem Buch „Ratschläge für junge Kaufleute“.
Anregungen zur Commedia dell’Arte aus: Markus Kupferblum, Die Geburt der Neugier aus dem Geist der Revolution, Die Commedia dell’Arte als politisches Volkstheater
facultas.wuv, 2013

Eva Wal, Februar 2017


Rondo

Glitzernde Kugeln hängen von der schwarz angemalten Decke des Cafés, der Kneipe, wie aus einem Bühnenraum. Später Nachmittag oder früher Abend; es wird Bier oder Kaffee getrunken. Wasserdampf stöhnt über der Espressomaschine. Auf meinem Tisch liegen gelesene und ungelesene Zeitungsartikel übereinander und durcheinander. Sie dienen als Unterlage für meine Schreibkladde. Daneben stehen die Kaffeeschale, die Dose mit dem braunen Zucker, das gläserne, geriffelte Behältnis für die Kaffeemilch - trüb und dick; ich denke an beschlagene Brillengläser.
Ein Junge, von großer Weitsichtigkeit im Kindesalter geplagt, muss diese Gläser vor seinen Augen tragen. Sie werden von einem dicken, roten Gestell umrahmt. Der Junge sieht auf diese Weise schwachsinnig aus und ist dem Gespött der anderen Kinder preisgegeben.
Hinter den Gläsern kleben seine Augen wie Fladen, die noch nicht durchgebacken sind. Die Ränder verlaufen. In der Mitte schwimmt eine Schokolinse, die hin und herrollt, wenn die Pfanne bewegt wird.
Dann sehe ich trübe Teiche hinter den Gläsern im Gesicht des Jungen, in der Mitte glibbrige Laichstellen.
Keiner kann den Jungen leiden. Er wird gehänselt, weil er alles weiß und ein Streber ist. Zudem kann er trotz seiner idiotischen Brille kaum sehen. So eine Strafe! Für nichts…
Musik und Stimmen umgeben mich, eine Welt aus Gesprächen. Gesprochene und unausgesprochene Gedanken schwirren in der Kneipenluft; Partikel.
Bierschwanger, espressodampfleicht.
Die Welt hier drinnen, die Welt da draußen, überlagert, getrennt. Die Tür geht auf und zu. Der Vorhang hebt sich und fällt. Auftritte, Abtritte.
Morgen Zahnarzt und Kartoffelsalat für das Weihnachtsfest. Heute Kino: „Der Junge und die Brille mit den Kaffeemilchgläsern“. „Der Junge und die Froschteiche“. „Der Junge mit den Pfannkuchen im Gesicht“…
Ich krame einen Stift aus meiner Tasche. Leere Papiere, Notizen und Skripte tummeln sich mit Dingen, die ich wie aus Versehen ständig mit mir herumschleppe. Zahnpasta, Lippenbalsam, Gummibärchen, eine Sammlung Zuckertüten und Streichholzschachteln von Café- und Kneipenbesuchen. Leider keine Taschentücher.
Ich schlage die Kladde auf und schreibe: Glitzernde Kugeln hängen von der schwarz angemalten Decke des Cafés, der Kneipe, wie aus einem Bühnenraum.
...

Dezember 2016


Estrela
Stern

Der Himmel über Lissabon war blank gewaschen und blau. Eda hatte eine Reise begonnen, ohne Ziel, und die Welt stand auf dem Kopf. Das Flugzeug war kopfüber hierher geflogen, zwischen großen Wolkenkissen hindurch.
Hier im Jardim Botanico im Stadtteil Estrela, was “Stern” heißt, standen hohe Palmen, und auch die Straßenlaternen schienen in den Himmel gewachsen zu sein.
Die Palmen hatten Röcke, Hosen oder Windeln aus ihren abgestorbenen Blättern um ihre Stangenleiber herumgewickelt. Ihre Stämme waren Leitern hinauf ins Blaue, ins Helle, ins Nichts. Auf dem Kopf trugen sie Perücken mit struweligen oder langen, glänzenden Haaren; schwarz im Gegenlicht.
Edas Gedanken wanderten in den wuscheligen Palmenköpfen umher. Verirrte Sonnenstrahlen steckten kreuz und quer zwischen langen Palmenblättern wie Haarnadeln.
Die Palmen bildeten Spaliere, säumten die verschlungenen Wege durch den Garten, bewachten die Flächen, auf denen all die anderen Bäume, Büsche und Pflanzen wuchsen. Da waren Nadelbäume mit Seidenfingern, da waren ausladende Bäume mit fleischigen Blättern, da waren Bäume mit Sternenblättern. Wurzeln wie die Körperteile verwunschener Phantasiewesen bildeten eine Skulpturenlandschaft am Boden.
Nur ein fiebrig krankes oder wirres Hirn konnte sich soetwas ausgedacht haben. Ganze Völker dieser Wesen aus Hirngespinsten breiteten sich hier aus.
Hohe Mauern mit Fenstern umgaben den Garten. Aus ihren pechschwarzen Öffnungen wuchsen Stalagmiten von Taubenkot hervor. Tauben saßen überall. Fast konnte man sie übersehen, denn keine regte sich. Von außerhalb der Mauern brandete der Lärm der Stadt heran. Gedämpft, hohl, dumpf, nervös, schlaflos drang er durch brüchige Stellen in dieses zweifelhafte Paradies ein.
Ja, das zweifelhafte Paradies, dachte Eda. Nach ihrer Ankunft, die so kopfüber gewesen war, hatte sie gleich den Garten aufgesucht.
Eda trug ein Kleid aus hellblauem Stoff, das sie wie eine Glocke umgab.
Ein feiner Wind wehte. Wie ein Gewebe war auch er um sie herum. Ebenso der Lärm der Stadt und ebenso der Duft der Blumen, der Blätter, der Erde. Er war herb, betörend, zauberhaft. Ein fauliger Geruch strömte von den Mauern in die Mitte des Gartens dazu. Alles vermischte sich zu einer Art Ohnmacht, einem Schleier aus hellem, aber schwerem Stoff.
Eda erinnerte sich, dass sie hier immer vielen Katzen begegnet war. Bei ihrem letzten Besuch noch - wie lange war das her?
Sie fragte sich, wo die Katzen heute waren, denn sie hatte noch keine gesehen.

Leseprobe aus der Novelle: "Der Nelkensee oder Edas Reise", 2016, Kapitel 1 (Alles zur Novelle und bibliophilen Edition unter publikation/produktion auf diesem Blog)

Novelle "Der Nelkensee oder Edas Reise, (c) August 2016)

Der Ventilator oder Brief an die beste Freundin

Liebe Nus,

danke für das schöne Foto, das diese Fotografen von Euch gemacht haben. Besonders habe ich mich natürlich gefreut, dass der Ventilator so gut darauf zu sehen ist.
Ich hoffe, Du hast auch etwas von dem Honorar abbekommen - etwas Kleingeld  könnt Ihr ja wirklich gut gebrauchen.
Wie geht es Euch beiden?
Auf dem Foto seht Ihr ganz zufrieden aus. Wie schön und liebevoll Du Arni im Arm hältst!
Der Kleine scheint sich prächtig zu entwickeln.
Lasst Euch nicht unterkriegen von diesen oder jenen Gemeinheiten! Worte können Euch nichts anhaben. Ihr lasst sie doch einfach an Euch abprallen und schickt sie fort; der Ventilator wird sie davon pusten oder so durcheinander wirbeln, dass diese Beleidigungen nur noch unverständliche Plapperei sind. Dieses Geschwätz ergibt sowieso keinen Sinn.
Auf dem Foto lächelst Du so schön und friedlich, strahlst Zuversicht aus, dass ich mir sicher bin: Ihr schafft das! Ihr seid stark! Ihr führt Euer Leben so gut es geht. Arni kann sich freuen, so eine schöne, starke Mutter zu haben, die ihn nicht im Stich lässt, die zu ihm steht, auch wenn sie selber im Stich gelassen wurde.
Was Du mitgemacht hast! Was weiß ich schon, als das, was Du mir anvertraut hast mit feuchtschweren Augen und bleierner Zunge in all den Jahren, seit Arni auf der Welt ist, und was ich selbst erlebt habe als Deine Freundin. Damals, als wir Tür an Tür lebten und zur selben Zeit einen tollen Typen fanden. So toll! Das dachten wir zumindest. Groß und blond, from Australia, from the USA, from Europe, from Germany… Yes, how beautiful you are. Das haben sie gesagt, und es war so einfach für sie.
Alle Männer dort werden mit gelben Haaren und Taschen voller Geld geboren. Taschen? Nein, sie müssen aus Häusern voller Geld kommen. Aus großen, riesenhaften Häusern wie Burgen oder Schlösser aus Märchen oder Kriminalgeschichten mit Burglar-Alarm, einem Code an der Einfahrt in eine Parkanlage, die zu einem Anwesen hinter stattlichen Bäumen führt. Auf der Terrasse ein Pool, innen Klimaanlage, Zimmer-Bars, Betten von der Größe unserer Hütten… all sowas, was wir uns in unseren Vorstellungen erträumen oder zusammen phantasieren. Wir dachten, wenn wir mit diesen Männern trinken und lachen und sie uns in ihre starken Arme nehmen und uns überhaupt ihre Stärke und Überlegenheit und Männlichkeit zeigen auf diese und jene Weise, so dass uns die Leute im Viertel schief und verächtlich ansehen und tuscheln hinter unseren Rücken, wenn wir vorüber gehen - wir dachten, wenn wir uns darauf einlassen, uns ihnen anvertrauen, dann beschützen sie uns, und das viele Geld, das sie einfach so besitzen, fällt über uns wie ein Regen. Ach! Ach und weh, heute, meine liebe Freundin, wissen wir es besser.
Vielleicht sind wir ja selbst schuld, vielleicht haben unsere vielen Verächter ja Recht, die sagen, dass uns das Herz und die Seele fehle, dass wir Luder und Schlampen sind und wie sie uns nennen. Was tun wir nicht, um uns einen Vorteil zu verschaffen oder schlicht der Armut zu entfliehen.
Ich lebe heute dort, wo die Menschen Häusern voller Geld entstammen, auch wenn sie nicht in solchen Traumschlössern leben, doch ich versichere Dir: anstatt sich jeden Tag zu freuen, dass sie das Joch der Armut nicht tragen müssen, sind die Menschen hier unzufrieden, missmutig und misstrauisch. Dieses Paradies Deutschland, Germany, wo ich mit meinem Matthias lebe, dessen Kinder ich aufziehe, dessen Wäsche ich wasche, für den ich koche und dem ich zu Diensten bin bei Tag und in der Nacht, ist wie eine Hölle. „Wohlstandsgesellschaft“ nennt man diese Hölle der Langeweile, des Konsums und der Gleichgültigkeit.
Wieso erlöst das Geld die Menschen nicht? Mich erlöst es ein wenig, nicht mehr arm zu sein, das muss ich sagen. Doch jeden Tag betaste ich mein Leben wie etwas Fremdes, einen Fremdkörper - ist es denn meines, dieses Leben im Wohlstand und mit einem Mann, den ich nicht liebe?
Auch hier schauen mich die Leute schief oder verächtlich an, wenn ich an Matthias Seite durch die Straßen gehe: so Eine, eine kleine Thailänderin! Wo hat er sie gekauft?
Dabei sind wir verheiratet. Ich habe ihm eine Tochter geboren. Zwar nur eine Tochter, aber seine Söhne aus erster Ehe ziehe ich auch auf. Glaube nicht, dass das einfach ist!
Auch wenn wir unser Haus voll mit Ventilatoren stellen könnten, so viel Geld haben wir, ich sage Dir ehrlich, Nus, manchmal beneide ich Dich!
Du hast diesen Uwe geliebt, auch wenn es Dir keiner geglaubt hat. Irgendwann hat Uwe es Dir auch nicht mehr geglaubt. Du bist doch nur, Du hast doch nur… Liederlich bist Du auf Lebenszeit als Mädchen, das mit diesen gelbhaarigen, oft fetten und viel älteren Kerlen verkehrt. Doch Arni ist eine Frucht Eurer Leidenschaft. Du kannst ihn lieben und ihm eine gute Mutter sein. Ihn  trösten. Ihn stärken. Trotz aller Bitterkeit glaubst Du an ihn und an Euch und an Euer kleines Leben auf einem traurigen Fleckchen ganz hinten in der Welt. Und glaube mir, auch wenn ich kein Geld verdienen muss, auch wenn es mir an nichts fehlt und Matthias gut zu mir ist: den Ventilator konnte ich Dir nicht so einfach besorgen! Ich musste richtig betteln, dem Matthias auf die Nerven gehen, ihn bezirzen… Was willst Du mit dieser Freundin, die kann schon für sich sorgen, die ist doch geschäftstüchtig, und er grinst mich an.  Er ist da irgendwie hart. Ich weiß nicht, warum. Er tut gerne so, als gäbe es keine Vergangenheit. Er sieht es nicht gerne, wenn ich nur diese eine Verbindung zu Dir halte. Warum gönnt er uns das nicht? Es ist, als ob durch dieses kleine Fenster zur Vergangenheit eine schwüle, heiße Luft hereinkommt; der faulige Gestank, der überall in den engen Gassen unseres Viertels lungert und ihn ganz benommen macht. Das mag er nicht. Lieber erzählt er selbst von Thailand, von Bangkok, der aufregendsten Stadt, in der er je war, so prahlt er vor seinen Freunden und Bekannten. Und dann schwärmt er von den weißen Sandstränden mit Palmen vor einem dunkelblauen Meer wie im Katalog und romantischen Hütten mit Hängematten davor. Kinder, das glaubt ihr nicht!
Aber, meine liebe Nus, wie eine Schwester liebe ich Dich und will Dich hier nicht mit meinem Leben langweilen. Mein kleines, müdes Herz ist bei Dir und Arni.
Du wirst Deinen Sohn zu einem anständigen Mann erziehen, der sich nicht an seinen Mitmenschen vergeht - denn er weiß, wie es sich anfühlt, gedemütigt zu werden und ausgeschlossen zu sein. Und glaube mir, Nus, ich lasse Dich nicht im Stich! Ein Ventilator macht zwar nichts, als die Luft herumzuwirbeln und verbraucht dazu noch Strom, doch ehrlich: ich freue mich so sehr bei dem Anblick, dass ich bei Euch sein kann durch den Ventilator. Dass er Euch Kühlung verschafft inmitten dieser dicken, heißen Luft bei uns Zuhause im Viertel.

Zum Foto von Insa Hagemann und Stefan Finger,
„Wanna have love!?“

 in der Ausstellung "Menschenskinder, Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit" am Arp Museum Bahnhof Rolandseck (bis 16. Oktober). Historische Gemälde aus der Sammlung RAU für UNICEF stehen Fotografien des internationalen Wettbewerbs "UNICEF-Foto des Jahres" gegenüber.

Das Foto ist hier zu sehen, bitte Ausstellungs-Flyer anklicken:


1. Mai

Ich betrachte das Haus. Licht spielt, tanzt, wird reflektiert auf den Fensterrahmen und dem matten Burgunderrot wie auf einer Wasseroberfläche. Schattentanz der Bäume: Linde, Weide, Birke. Und dann ein Vogelflug, nachgezeichnet im Licht, das flach auf den Balken liegt. Die Oberfläche unseres Hauses ist lebendig. Ich wünschte, es wäre dick und grün bewachsen. Außen hell, das Licht auf allen Blättern und innen feucht und dunkel, heimelig. Ich verschwinde darin. Das ist mein Wunsch.
Doch ich habe selber so eine lebendige Oberfläche. Kleine Wesen verschwinden in meiner Bewachsung. Vögel sind es, angelockt vom Gesang meiner Gedanken. Sie allein, diese Vögel in unzähligen Arten, erkennen die Dichtung in der Sprache meiner Gedanken. Meine Dichtung beginnt mit den Worten: 1. Blut, 2. Blutampfer, 3. rotes Ampferblut. Blüht, Blüte, verblüht. Es geht weiter: Johannisbeere, Milch, Lupinenmilch und Lupinenmehl; Brot aus Milch und Mehl der Lupinen. Löwenzahn und Wiesenschaumkraut, mein zartestes Wesen. Vergissmeinnicht. Es ist das Allerwichtigste, nicht zu vergessen und vergessen zu werden.
Da schlagen mich die Vögel mit ihren Flügeln und singen und rufen und schreien: Vergessen! Vergessen ist alles, erinnern ist nichts!

 
Unschuld 


Von nebenan, aus Nachbarsgarten, krabbelt, klettert, schleicht das Gelb in meinen Garten hinein. Habe ich es gebeten? Es ist unverschämt gelb. Forsythiengelb, über den Zaun gekommen.
Die erste Magnolie springt auf, weißglänzender Frühjahrsstern.
Die fünfte Kameliendame erscheint; japanische Melancholie und Strenge auf den glatt geschnittenen Gesichtszügen. Matter Schimmer und ein Hauch Violett in feinem Rosa verborgen.
Ich trage einen großen, gelben Stern hinter der Stirn – eine Löwenzahnblume, ausgebreitetes Licht mit Zackenrändern. Hohe Stile mit weißer Milch, die in mächtigen Wurzeln münden. Pfähle in der Erde, tief verankert.
Ich ackere unter blauem Himmel. Später trinke ich einen heißen Espresso mit Milch und Zimt und halte mein Gesicht mit dem gelben Stern in die Sonne. Empfange Wärme.
Der Acker: ich hacke auf die schlechten Gedanken ein, manche sitzen fest. Es macht Spaß, ihnen die Wurzeln zu zerschlagen. Ich lade die Regenwürmer ein, mit mir zu ackern, mit mir zusammen in der Erde zu leben, doch hierfür muss ich sie bitten, mich einzuladen - ob sie mir verziehen haben?
Den einen oder anderen zerhackte ich wie einen bösen Gedanken. Ob sie mir überhaupt jemals verzeihen können? Dieser Schmerz! Auch, wenn ihre Körper wieder zusammen wachsen, muss doch da eine furchtbare Erinnerung bleiben!
Ich schaukele an der Linde, meiner Königin, und halte wiederum mein Gesicht in die Sonne. Der starke Ast der Linde hält mich so gnädig in meiner Schaukel; wie ein Lindenbaby schaukele ich sanft in ihren Armen. Dabei reibt das Seil, mit dem ich die Schaukel am Ast befestigt habe, an einem Astloch entlang. Tut das nicht weh? Ich werde ein Stück Leder oder Sackleinen darunter stecken; das habe ich mir schon länger vorgenommen. Und so lange tut es meiner Königin weh - jedes Mal.
Das schöne Beet am Backhaus habe ich gemacht. Die Erdebeeren frei gehackt und gerupft und gezupft. Der Bärlauch blüht, Waldmeister, Veilchen, Vergissmeinnicht. Gelbe Sterne einer Rankpflanze singen auf ihren dunkelgrünen Betten. Eine Flut kleiner, weißer Sterne tanzt vom Bärlauch heran und ergießt sich. Giersch schießt mit den Erdbeeren um die Wette. Keine Pflanze ist so schnell wie der Giersch. Warum?, fragen mich die Pflanzen, rupfst Du dieses eine Kraut? Was hat es Dir getan?
Ob es mir verzeihen kann?
Ob mir der Garten und all seine Lebewesen jemals verzeihen können?


(c) Eva Wal, Mai 2016



Drei kurze Geschichten aus Lissabon

Januar 2016

Worte
oder Wer im Glashaus sitzt

Es ist Sonntag. Männer trinken ihren Espresso, Bica genannt, und ihr Glas Wein in der Snack Bar Sinai in ihrem Kiez. Der Mann hinter der Theke schenkt die Gläser randvoll. Eine Frau betritt die Bar.  Der enganliegende Lederrock ist leicht verrutscht, die Frisur in Unordnung. Lange Strähnen ihres schwarzen Haars hängen von der Hochsteckfrisur in ihr hageres Gesicht. Mit dezenten Gesten, gesenktem Blick, lauernd wie ein Hund, der winselt, aber auch zubeißen kann, mit verkniffenem Mund, ein bitterer Ausdruck auf den Lippen, etwas beißenden Geruch verströmend, bittet sie den Barkeeper, die Toilette benutzen zu dürfen. Deutet ins Innere der Bar, ganz nach hinten durch, wo ein Schild das WC anzeigt. Die Blicke der Männer treffen auf sie wie ein leichter Regen aus schmutziggrauen Kieselsteinen. Der Mann hinter der Theke entscheidet: keine Bemerkungen hier in meiner Bar! Er sagt kein Wort, er spricht mit seinen Blicken. Knapp und präzise bestimmen sie das Geschehen. So benutzt die Frau das WC, und die Männer trinken weiter ihre Bica oder ihr Glas Wein. Jeder ist für sich, keiner unterhält sich mit dem anderen. Man hört das Geklapper der Gläser oder Bicatassen, wenn sie auf der Theke abgestellt werden, Münzen, die Kasse, und ab und zu das Gehen der Eingangstür oder der Schwingtür zum WC am Ende der Bar. Worte werden gewechselt beim Bestellen, beim Bezahlen, beim Begrüßen und Verabschieden. Das sind die Rituale.
Ich denke: so soll es sein. Jeder oder jede hat ein Recht auf sein Glas Wein oder die Toilettenbenutzung. Jeder oder jede wird gleich behandelt. Jeder lebt sein Leben, trägt sein kleines Schicksal wie ein Schneckenhaus mit Anstand und Respekt vor den anderen. Der Barkeeper hat ein Recht auf respektvollen Umgang in seiner Bar. Alles ist sauber und geordnet hier, alles geht der Reihe nach. Ich denke: der Barkeeper ist ein rechtschaffener, gerechter Mann. Ein Kommunist im idealen Sinn.
So soll es sein, sonntags in der Bar Sinai um die Ecke vom Nationalmuseum für alte Kunst, wo das Leben auf dem harten, schmutziggrauen Kieselstein-Pflaster der Straße oder den glitschigen, steilen Treppenstufen zum Fluss hinunter auf das Leben der Reichen, der schön Gekleideten, der Gebildeten oder der ganz normalen Menschen trifft, die das Museum, seine Caféteria, genannt “Restaurant”, oder die neue, schicke Bar vor dem Museumsgebäude, ganz aus Glas, direkt über dem Tejo, besuchen. “Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen”, so geht das Sprichwort.


Alt und gebrechlich, rauf und runter

An der Tram-Haltestelle am Largo da Graça warten drei alte Männer mit Krücken. Es ist dunkel, und es regnet. Ein altes Weib, beladen mit Tüten, Taschen und Körperfülle, kommt hinzu. Sie spricht, während sie ihre Tüten und Taschen auf der Bank der überdachten Haltestelle abstellt. Sie spricht mit sich selbst und mit allen Anwesenden, so scheint es, teilt ihr Tun in allen Einzelheiten mit. “Papel”, verstehe ich, “Papier”. Sie holt eine Ansammlung von Papierservietten aus ihrer Manteltasche und wischt die nasse Bank ab. “Chuva”, “Regen”, sagt sie immer wieder. Wir warten auf die Straßenbahn Número 28 nach Prazeres. Ausnahmsweise sind wir gerade die einzigen Touristen, und vielleicht erkennt man uns nicht einmal. Wir reden nicht, tragen keinen Rucksack, keine Straßenkarte oder eine Kamera vor uns her und versuchen, recht alltäglich dreinzublicken. Manchmal klappt es, und einer von uns wird auf Portugiesisch angesprochen - das gibt einen Punkt. Derzeit haben wir Gleichstand. Jetzt nicke ich immer freundlich und verständnisvoll, wenn die dicke Frau etwas zu mir sagt. “Chuva”, schnaubt sie; ja, es regnet.
Die Straßenbahn kommt, wir steigen ein. Ich mache Zeichen, die alten Herren vor uns einsteigen zu lassen, aber sie lächeln und lehnen ab. Alles der Reihe nach bitte! Sie klettern die Stufen hinauf in die Bahn, eine der täglichen Herausforderungen in dieser Stadt, wo ein Gewirr hell gepflasterter Straßen die steilen Hügel zwischen engen Häusern hinauf und hinunter führt. Hier leben die Menschen, und hier klettern sie tagtäglich Straßen und Stufen rauf und runter. Der Straßenbahnfahrer, ein junger Mann mit langem, schwarzen Zopf, der über der blauen Uniform an seinem Rücken herabhängt, nimmt die Tüten und Taschen der schnaufenden Frau an und stellt sie neben dem Fahrersitz ab. Später, als sie aussteigt, reicht er sie ihr wieder hinaus. Sie stapft davon in die Dunkelheit.
Wieder versuche ich während der Fahrt, meinen Sitz einem alten, gebrechlichen Menschen zu überlassen, doch dankend und lächelnd lehnt er ab und bedeutet mir, sitzen zu bleiben. “Obrigado”, danke für das Angebot. Ich habe zwar schmerzende Füße, doch bin ich nicht alt und gebrechlich, nein! Als wir nun am Largo do Camões aussteigen, bestehe ich darauf, dass dieser eine Mann mit Krücken, der schon nicht meinen Sitz wollte, doch vor mir aussteigt. “Obrigado”, danke - endlich!


Der Lisboeta

Für die letzte Fahrt, aus der Stadt heraus zum Flughafen, bestellen wir ein Taxi.
Unser Taxifahrer ist groß und schlank und von kräftiger Statur. Er hat ein großes, langes Gesicht, große, lange Gliedmaßen. Kaffeebraune Haut, eine arabische Nase, arabische Eulenaugen. Er ist von einer freundlichen, sympathischen Art und recht gesprächig.
Der Taxifahrer erzählt:
“We in Lisbon have a friendly way. The winter does not get colder than this – this is winter! I am born in Lisbon, I never left this city, I am fourtyfive years old now, I am we call it a Lisboeta. I never saw snow. I think my mother saw snow once, about sixty years ago.
We have good weather, we have the most sun in Portugal and even in Europe in the winter, I think. We are friendly people, and there are no great problems. Only in the tram, maybe, the public transport, you know. It is often crowded, and there are pickpocketers nowadays. They come from Romania, they are a big problem. But only in the tram, because it is crowded, and there are lots of tourists with the maps and the cameras, you understand? Well, not all the pickpocketers come from Romania, most of them. But actually it is not a big problem. No, there is nothing really bad here. Even at night, people gather at places, but yes, there are some black people, the young, you know, they maybe do some funny things at night, but no, mostly they are ok. And also there are no muselmans, really not, there are no problems here. We have a lot of black people, from the colonies, they are all right.
Dear Sir and dear Madame, you must come to Lisbon in June! There is the party of the holy Antonio, patron of the city. All the neighbourhood is cooking the food, fish and salad, and it’s for free! There is dance and drink and the fish on the grill. It is a very nice time and not too hot for you.
Yes, the food is good and good places around, bars, restaurants and so on. But here in Lisbon we don’t read about the places, you know, we talk. Mouth to mouth, that’s how you know about good places and everything.
It’s good you like our city, good for us. And yes, it’s nice to be here.
I am glad you had a good time. Thank you, bye, bye!”

Januar 2016

Himmel über Galé, Algarve, Januar 2016

Sonnenuntergang an der Algarve

Und als ich am Abend alleine am Strand entlanggehe in den Sonnenuntergang, da fallen die Wände um mich herum weg, stürzen ein, fort, davon, diese Wände dessen, der immer bei mir ist und mich bewacht (ja, seine Gegenwart bildet Wände um mich herum). Und nun beginnen all die Stimmen in mir sich wieder frei zu fühlen, flügge zu sein (sie kennen das, erinnern sich daran), und munter plappern sie herum und schwingen und schaukeln auf den Diamantschwingen und Diamantschaukeln in der Luft, und dann rollen sie davon. Wünsche werden sichtbar, zeigen sich; sie reiten auf Gedanken. Die Gedanken sind Pferde. Eine bunte, muntere Herde portugiesischer Pferde sehr unterschiedlichen Charakters.
Nun sinkt die Sonne, und ich sinke in die mir bekannte Ergriffenheit, eine sumpfige Erde, die mich von unten her, von den Füßen, die Waden hinauf anfüllt, als wäre ich eine Vase. Doch froh bin ich, heiter, umarme die Tragödie meines Scheiterns. Sehe aufeinmal mitten hindurch durch den Stoff Leben in eine glasklare, ferne, wohltuend fremde Luft.
Die Sonne berührt das Meer, sie haben Sex, dieser rote Ball dringt ein in die Haut und zerschneidet sich beim Hineingehen in das Fleisch an ein paar dahingleitenden Wolkenmessern. Dennoch ist sie vergnügt, lacht, diese hartgesottene Sonne, dieser tiefrote Ball. Ihre Kraft, ihre Unverschämtheit, ihr wildes Lachen aus einem ungeheuerlichen Raum machen mich heiter und ruhig, so seltsam das ist. Nichts ist in mir, alles brandet durch mich hindurch, dieses Rollen des Fleisches aus Meeresmasse. Reichlich Fische darin wie nervöse Empfindungen. Zappelnd, ergeben, aufsässig.
Der Mond bedeckt sich nun mit einer feinen Watteschicht, diese noble, blitzende Seelensichel des Abendhimmels. Und Fischerboote, und verschiedene Farben, das altbekannte Rosa, das von altbekannten Vögeln und ihren Rufen durchkreuzt wird, “wohin?” und “woher?”, heiser, gellend, schon weit weg. Diese Rufe sind auch heute Abend so alt und neu wie immer, und das beruhigt mich.

Januar 2016




Algarve, Januar 2016


El Norte oder was der Clown August erzählt

Eine Geschichte zur Ausstellung Menschenskinder, Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit, am Arp Museum Bahnhof Rolandseck, vom 20. September 2015 bis zum
14. August 2016

Bilder aus der Kunstkammer Rau für Unicef mit historischen Gemälden abendländischer Kunst stehen aktuellen Reportagefotografien aus dem fortlaufenden Wettbewerb Unicef-Foto des Jahres gegenüber.


Akteure

Clown August, der grüne Clown: nach dem Gemälde Clown in grünem Kostüm von
August Macke, 1912

Pedro aus Honduras: nach dem Foto Bound to El Norte von Don Bartletti, 2003

Nila aus Afghanistan: nach dem Foto Der Fluch der Zwangsehen von Stephanie Sinclair, 2007

Sophie de France: nach dem Gemälde Porträt der Prinzessin Sophie de France von 
Jean-Étienne Liotard,  um 1750

Monelisi aus Südafrika: nach dem Foto Südafrika: Tanzen für eine bessere Zukunft von Per-Anders Pettersson, 2011

Kimberly aus Kentucky: nach dem Foto Ihr erstes Gewehr von An-Sofie Kesteleyn, 2014



Ein Zirkuszelt  irgendwo auf der Welt. Die Lichter gehen an, Musik spielt auf. August, der grüne Clown, betritt die Manege. Die Zuschauerreihen sind voll besetzt. Erwartungsvolle Stimmung. Die Musik spielt einen Tusch, die Vorstellung beginnt.



Hallo, ich bin der grüne August. Heute erzähle ich euch die Geschichte von Pedro.

Pedro aus Honduras in Südamerika macht sich auf, seine Mutter zu finden. Eines Tages, als Pedro noch ganz, ganz klein war, ist sie weggegangen. Nach Amerika, in die Vereinigten Staaten von Amerika, die USA. Die Grenze liegt im Norden und trennt reich von arm.

Im Norden, also in den Vereinigten Staaten von Amerika, da wohnen die Reichen, und im Süden, also zum Beispiel in Honduras, da wohnen die Armen…



Der Clown hebt die Schultern und macht eine kleine Handbewegung, so als wolle er sich irgendwie entschuldigen. Dann erzählt er:



Eines Morgens also setzt sich der Junge  Pedro auf das Dach eines Güterzuges. Er trägt zerrissene Kleidung und hat sonst nichts bei sich. Kein Geld. Nichts zu essen und nichts zu trinken. Er will seine Mutter finden. Ein Fotograf steht hinter ihm und macht ein Abschiedsfoto. Dann fällt er vom Dach. Hahahahaha!

Das Publikum lacht.

Als der Zug anhält, steigt ein kleines Mädchen zu ihm aufs Dach. Sie trägt ein schönes Tuch um den Kopf. Wohin willst du?, fragt Pedro, und das Mädchen sagt: weg.
Pedro fragt: hast du Geld? Dann darfst du hier oben bleiben. Wenn du kein Geld hast, stoße ich dich runter!

Das Publikum lacht.

Das Mädchen schaut Pedro aus funkelnden Augen an. Sie sieht aus, als wolle sie auf Pedro losgehen. Doch sie klein und schmal, und Pedro ist größer und stärker. Also lächelt sie ihn an und sagt: du kannst mein schönes, rosarotes Tuch haben. Es ist neu, und es war teuer! Es ist ein Hochzeitsschleier. Gib her!, ruft Pedro und reißt ihr den Schleier vom Kopf. Das Mädchen setzt sich neben ihn und hält sich an seinem Oberarm fest. Pedro gibt ihr einen Knuff.

Der Clown August macht einen Knuff und verzieht dabei das Gesicht so drollig, dass das Publikum laut lacht. 
August klatscht in die Hände.

Dann kommt die nächste Station, erzählt er weiter.

Das Publikum ist sehr aufmerksam und gespannt, in manchen Reihen hört man ein leises Tuscheln oder Raunen. Was kommt jetzt?

Der Clown zieht die Augenbrauen hoch:
Und was kommt jetzt?, fragt er in den Zuschauerraum hinein.
Ein Elefant!, ruft ein Mädchen.
Das Publikum lacht. 
Nein!, ruft August und macht eine ausladende Geste. Viiiieeeel besser! Hat noch jemand eine Idee?
Nachdem die Kinder verschiedene Tiernamen gerufen haben wie Giraffe oder Pferd, Tiger, Schwan oder Schwein, ruft ein Kind: noch ein Mädchen!
Ja!, ruft August zurück und macht: psssst, bis das Publikum wieder ruhig ist.
Ja, erzählt Clown August weiter,

ein anderes Mädchen steigt auf den Zug auf. Aber dieses Mädchen scheint ganz anders zu sein als Pedro und die Kleine. Sie ist es nicht gewöhnt herumzuklettern, das sieht man sofort. Ungeübt, mit plumpen Bewegungen, watschelt sie auf dem Dach des Güterzuges entlang. Und wie sie aussieht! Sie trägt einen schwarzen Umhang und hat Nebel im Haar. So sieht das zumindest aus. 
Ist aber Puder, verrät der Clown, und manche im Publikum kichern.
Ihre Klamotten müssen saumäßig teuer gewesen sein. Schon der schwarze Umhang glänzt fein und kostbar, dagegen ist der Hochzeitsschleier der Kleinen purer Ramsch. Der Umhang verbirgt aber das Beste, ein Wahnsinns-Kleid mit Spitzen und so, das nur in kleinen Ausschnitten zu sehen ist. In den gepuderten Haaren des Mädchens stecken komische Blumen. Auch aus feinem Stoff. Woher hat sie das alles? 
Und wie hat sie es nur hierher geschafft, so ungeschickt, wie sie herumkraxelt?
Pedro taxiert sie, und die Kleine starrt ihr mit großen Augen und offenem Mund entgegen. 
Bonjour, sagt die Neue, als sie endlich bei den beiden angelangt ist. Keiner versteht das, und Pedro sagt: Hau ab! Das aber versteht das Mädchen nicht. Sie glotzt wie eine Kuh, findet die Kleine, und das gefällt ihr. Alles an der Neuen ist komisch und ungelenk. Auch ihr Verhalten ist komisch. Schüchtern wirkt sie, aber auch hochnäsig, ihre Bewegungen sind steif.
Je m’apelle Sophie de France, sagt sie dann. Sie spricht, als habe sie eine Wäscheklammer auf der Nase. Ihre Stimme klingt wie Sprühregen oder feiner, glitzernder Nebel, findet das Mädchen. Pedro erinnert es eher an einen Frosch, der versucht zu singen.

Lachen aus dem Publikum.

Sophie de France plumpst hinter den beiden auf das Dach. Sie stöhnt, und das kleine Mädchen muss auf einmal lächeln.

Hihi, gluckst der Clown. Es kichert aus dem Publikum. Hihi, machen ein paar Kinder nach.
Pssst!, machen die Erwachsenen, und der Clown erzählt weiter:

Also da hocken sie nun zu dritt, und das kleine Mädchen zupft an Sophies feinem, schwarzen Umhang. Ein betörender Geruch strömt unter dem Umhang hervor. So etwas hat das Mädchen noch nie gerochen. Aus jeder Falte von Sophies Kleidung schweben duftende Wölkchen empor. Nila, sagt das Mädchen. Das ist ihr Name. Sie heißt Nila und kommt aus Afghanistan. Sie ist elf Jahre alt. Heute ist ihr Hochzeitstag. Doch sie konnte entkommen. Jetzt nimmt sie einen Zipfel von Sophies Mantel und hält ihn an ihre Kinderbrust. Sie linst hinter den Stoff  wie durch ein Schlüsselloch in ein verdunkeltes Zimmer hinein. Dort wohnt der füllige Körper von Sophie de France. Im Halbdunkel sieht Nila, dass Sophie schon richtige Brüste hat, die schön hervorstehen. Das macht das Kleid. Der Umhang soll dann alles wieder verdecken. Das ist aufregend! Nila fühlt sich so angezogen von der duftenden Wärme der pummeligen Sophie mit kostbaren Kleidern, mit Nebel und Blumen im Haar, dass sie augenblicklich zwischen ihren Brüsten versinken möchte und weinen. Einfach nur weinen. Lange, so lange sie will. Aber Nila ist tapfer und stolz und hat sich geschworen, in diesem Leben keine einzige Träne mehr zu vergießen. Sie ist ja schließlich kein Kind mehr! Das hat man ihr zumindest gesagt. Sie findet, diese Sophie ist viel mehr das, was man sich unter einer Frau vorstellen kann. Viel mehr, als sie es jemals sein könnte und wollte. Sie, Nila, fühlt sich weder als Frau noch als Kind. Und gerade fühlt sie sich einfach nur leer. 

Der Clown breitet die Arme aus und fasst die Situation zusammen. 

Vorne sitzt Pedro, dahinter sitzen Sophie de France und Nila auf dem Dach des Güterzuges. Sie sitzen und sitzen. Langsam lichtet sich der Nebel. Nein, er wird dichter! Dichter Nebel. Sie fahren und fahren. Sie fahren Richtung Norden, zur Grenze. 
Pedro hält Ausschau in den Nebel hinein. Er steht da wie ein Wächter. Sophie ist froh, dass sie es bis hierher geschafft hat. Sie will sich nicht mehr fortbewegen und hofft, es geht lange gut, hier oben zu bleiben. Nila ist irgendwann eingeschlafen, ihren Kopf an Sophies Seite gelehnt. Sie ist heruntergerutscht, und ihr Kopf liegt nun in Sophies Schoß. Sie schläft tief und fest, und ihre Träume ziehen zum Rattern des Güterzugs durch sie hindurch wie durch einen finsteren Tunnel. 

Clown August macht eine Pause.
Tja, sagt er und streckt die Hände nach vorne zum Publikum hin, die Handflächen nach oben.
Im Publikum ist es ruhig, doch man hört das Rascheln der Menschen auf ihren Sitzen. Leises Raunen.
Was kommt jetzt?
August scheint zu überlegen. Er streicht über seinen grünen Anzug.

Endlich lichtet sich der Nebel doch, es wird heiß. Der Himmel ist blau, der Zug frisst sich durch das Land. Rechts und links der Gleise sind Maisfelder. Maisfelder, so weit das Auge reicht. Es geht gen Norden. Pedro versucht, an nichts zu denken. Nicht an gestern, nicht an heute, nicht an morgen. Da sieht er seine Mutter vor sich stehen. Sie ist groß und schön und stark. Sie ist zart und schlank, perfekt geschminkt und schick wie ein Mannequin. Sie ist mütterlich weich und warm. Sie hat große Brüste, einen vollen Mund und einen runden Bauch, über den sich ein buntes Sommerkleid mit einer Schürze darüber spannt. Pedro verdrängt die Bilder, schubst sie fort. Doch sie kommen wieder, stehen zu beiden Seiten der Gleise Spalier, kommen auf ihn zu wie Nebelfetzen und lösen sich wieder auf. Scheiße, denkt Pedro und versucht, sich zu konzentrieren. 

Der Zug hält an. Und wer kommt jetzt dazu? 

Schwan, ruft wieder ein kleines Kind aus dem Publikum.
Ein Junge, verrät Clown August. Ein Junge mit schwarzer Hautfarbe.
Afrika!, ruft ein Kind, Neger! Ein anderes. Pssst, hört man die Mutter sagen.

Der Junge trägt ein weißes Unterhemd, schwarze, enge Leggings  und Ballerinas an den Füßen. Er lacht die anderen Kinder an.

August zeigt ein strahlendes Lachen auf dem Gesicht. Er dreht sich, bis alle im Publikum es gesehen haben.

Da hebt der Junge die Arme über den Kopf und beginnt zu tanzen. Mitten auf dem Dach auf dem fahrenden Zug. Mann!, entfährt es Pedro, und Sophies Augen werden tellerrund. Nila schläft in ihrem Schoß. Ich bin Monelisi, stellt sich der Junge vor und dreht eine Pirouette. Was machst du hier, mann?, fragt Pedro, und Monelisi antwortet fröhlich: ich verreise. Tänzer braucht man überall auf der Welt!

Der Clown macht eine Geste ins Publikum, dass alle klatschen. 

Comment?, fragt Sophie. Darauf schnalzt Monelisi mit der Zunge und macht einen in seiner Sprache typischen Klicklaut. Er kommt aus Afrika, aus Südafrika.
Nila möchte nie mehr aufwachen aus diesem süßen Traum in Sophie de Frances’ Schoß. Pedro aber spürt, dass Gefahr naht. 
Es ist heiß geworden, der Himmel ist strahlend blau. Immer noch fahren sie durch Maisfelder.
Unter ihnen im Zug ist jemand auf die seltsamen Bewegungen und Geräusche auf dem Dach aufmerksam geworden. Es ist Kimberly aus Kentucky. Sie hat furchtbare Angst. Burglars!, schreit sie, Zombies! Sie greift nach ihrem rosaroten Gewehr und geht zum Fenster. Ihr Kinder-Abteil, das man ihr im Wagen dieses Güterzugs eingerichtet hat, ist ebenso rosarot wie ihr Gewehr und voller Spielzeug. Kimberly trägt ein rosa Kleid mit Leopardenmuster. Jetzt wird sie’s denen zeigen! Es ist gefährlich, aus dem Fenster zu steigen und von dort aus zu versuchen, auf das Dach zu schauen. Für ein übergewichtiges und völlig unsportliches Kind kann das eigentlich nicht gutgehen. Dann sagt Kimberly: es ist nichts zu machen, ich komme da niemals rauf! Sie starrt in die flirrende Hitze, in das Maisfeld vor ihrem Fenster. Es bewegt sich was im Maisfeld, das ganze Maisfeld ist in Bewegung geraten und rast an ihr vorbei.

Clown August macht eine wischende Handbewegung, durch die sich das Publikum das rasende Maisfeld vorstellen kann. Er hebt die Brauen und beugt den Oberkörper vor.
Hahaha!, lacht er, das ist doch ein Witz! Das Maisfeld bewegt sich natürlich nicht, es ist der Zug, der am Maisfeld vorbeirast, und Kimberly… August bewegt die offene Hand wie einen Scheibenwischer vor den Augen: ist meschugge, versteht ihr? Etwas verrückt… und er legt kurz den Zeigefinger vor den Mund. 
Einige aus dem Publikum lachen. 

Ist Kimberly verrückt? Die siebenjährige Kimberly aus Kentucky sieht Zombies - und das nicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hat sie schon gezeichnet, um ihren  Eltern zu zeigen, wie sie aussehen, oder wie sie sich die Zombies vorstellt. Jedes Kind weiß, dass es Zombies gibt. Und Einbrecher!
Überall aus dem rasenden Maisfeld kommen jetzt Zombies hervor und wollen zu ihr ins Spielzeugabteil. Das Fenster ist offen, und es nützt nun nichts mehr, dass ihr rosa Spielzeug-Abteil verriegelt ist. Ihre Eltern haben sie in diesen Zug gesetzt, damit sie zu ihrer Tante in Urlaub fährt. Sie ist mutterseelenallein. Gottseidank hat sie ihr Gewehr dabei! Und gottseidank ist es geladen! Gottseidank!, seufzt Kimberly. Kalter Schweiß breitet sich auf ihrer Haut aus, in ihrem rosaroten Gesicht und unter ihrem Kleid mit Leopardenmuster.  
Sie hebt das Gewehr und entsichert. Sie hat das lange geübt.

August macht die Bewegung nach und das Geräusch, wenn ein Gewehr entsichert wird. Es klingt ähnlich wie ein Klicklaut von Monelisi. 
Das Publikum ist sehr gespannt, nur kurze Lacher kommen. 
Und dann - der Clown macht eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen – 

drückt Kimberly ab, durchs geöffnete Fenster hindurch. Sie trifft. Ihr erster Zombie! Jaaaa! Blut spritzt, rosalila Blut, der Zombie taumelt, fällt um, doch da ist der Zug schon weiter gerast. Kimberly lädt und drückt ab, lädt und drückt ab, tötet, killt die verdammten Zombies, einen nach dem anderen. Blut spritzt und Gehirnmassen fliegen aus den explodierten Köpfen. Zähne und Augen fliegen herum. Zerfetzte Gliedmaßen. Jau! Doch dann ist die Munition alle.
Kimberly weicht vom Fenster zurück, taumelt und lässt sich in ihren Sitz fallen. Sie ist bedeckt mit kaltem Schweiß. Sie traut sich nicht, irgendwohin zu schauen. Ihr Herz klopft laut und schnell unter dem Leopardenkleid. Sie ist mutterseelenallein. 
Über ihr auf dem Dach haben die Geräusche nicht aufgehört, denn Monelisi hat die ganze Zeit unbeirrt weiter getanzt. Doch wo sind die Zombies? Kimberly schließt die Augen und sieht Zombie-Hirnmasse überall an ihrem Spielzeug kleben. Zwischen den Puppen liegen Gliedmaßen, Augen und Zähne herum. Das Abteil ist mit rosalila Zombieblut gestrichen.
Da bewegt sich etwas. Etwas kommt aus der Ecke hervor und auf sie zu. Zottige Haare, ein Röcheln, entsetzlich stinkender Atem. Kimberly stößt einen gellenden Schrei aus, dann wird sie ohnmächtig. 
Pedro hat die Schüsse gehört, das Geballer. Er steht auf und geht zu Monelisi. Packt ihn, dass er aufhört zu tanzen und Klicklaute zu machen. He!, ruft er und deutet nach unten, zu Kimberlys Abteil unter ihnen. 

Clown August macht die Bewegungen, zeigt nach unten. Dann nach oben:

Bring den hier hoch!, kommandiert Pedro Monelisi. Er will die Gefahr beseitigt haben. Monelisi zeigt seine strahlend weißen Zähne. Er lacht und sagt: ok. Dann legt er sich flach aufs Zugdach, und Pedro hält ihn an den Füßen fest, während er sich kopfüber nach unten hängen lässt, um in das Abteil unter ihnen zu schauen. Ja, da ist ein Fenster! Ja, darinnen sieht er die ohnmächtige Kimberly in ihrem Spielzeugabteil. Monelisi schnellt wieder hoch, er ist ein Akrobat, und berichtet: da ist ein Mädchen!
Bring sie hier hoch!, kommandiert Pedro.
Monelisi turnt in das Abteil zu Kimberly. Er nimmt ihr das Gewehr ab und reicht es durchs Fenster nach oben zu Pedro. Dann bringt er das Mädchen auf das Dach des Zuges und legt es zu Nila in Sophies Schoß. Die hat schon ihren Umhang ausgebreitet und legt ihre Hand auf Kimberlys kalte Stirn.
Pedro hält das Gewehr hoch. Rosa!, ruft er aus. Ein Mädchen-Gewehr, hahaha!

Kurze Lacher aus dem Publikum. 

Sie haben die Maisfelder hinter sich gelassen. Der Zug fährt nun durch flaches, staubiges Land. Müll liegt an den Gleisen, ab und zu sieht man Hütten. Es ist sehr heiß. Zum Glück sitzen sie hier oben im Fahrtwind.
Pedro fängt an, ein Lied zu singen, und Monelisi tanzt, ohne müde zu werden. 
Sophie summt das Lied mit, so gut es geht. Als Pedro sich zu ihr umdreht und sie mit diesen durchdringenden schwarzen Augen geradewegs ansieht, wird sie rot. Dann summt sie „Sur le Pont d’Avingnon“, lasst uns tanzen, lasst uns tanzen! Pedro verzieht sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Monelisi findet die passenden Schritte zu Sophies Lied. Sie singt jetzt laut. Mit ihren Händen streichelt sie die Köpfe der beiden Mädchen in ihrem Schoß, über ihre schweißverklebten, gelben und schwarzen Haare.

Clown August macht so gut es geht alle Bewegungen nach, und das Publikum darf endlich wieder wohlwollend lachen.
Wie schön!

August hält eine Hand mit der Kante an seine Stirn, beugt sich vor und dreht sich im Halbkreis herum. Er hält Ausschau. Nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Dann schnellt sein Arm nach vorne: Da! Die Grenze! La Frontera! 
Das Publikum murmelt aufgeregt durcheinander. 

Pedro schlägt mit dem Gewehr nach Monelisi. Stopp!, brüllt er. Monelisi legt den Kopf schief und klickt. Pedro stößt leicht mit dem Gewehr an Sophies Brust: Los! Aufstehen! Alle! Schnell!
Er stellt sich breitbeinig hin, Gewehr bei Fuß. Sophie fasst die Mädchen in ihrem Schoß an der Schulter. Dann wirft sie den Umhang über sie. Monelisi bleckt die Zähne.
Der Zug wird langsamer. Um sie herum ist nur weites, staubiges Land.
Die Grenzbeamten haben die Kinder sofort entdeckt. Sie fackeln nicht lange, erklimmen das Dach des Güterzuges. Doch damit haben sie nicht gerechnet: Monelisi hat Pedro das Gewehr entrissen und Nilas Hochzeitsschleier ergattert. Er tanzt einen so schnellen, berauschenden Tanz, dass die Grenzer für einen Augenblick völlig benommen dastehen und ihre Pflicht vergessen. Sophie singt Sur le Pont d’Avignon. Da nähert sich doch ein Polizist und will Pedro ergreifen. Blitzschnell reißt Sophie den Umhang von ihren Schultern und wirft ihn über den Mann. Nun entsteht ein Tumult. Die Polizisten wollen kurzen Prozess machen. Sie kommen auf die Kinder zu. Doch Kimberly, die gerade aus ihrem ohnmächtigen Schlaf erwacht ist, stößt einen so gellenden Schrei aus, dass alle Männer augenblicklich vom Dach des Zuges stürzen und in einem Heer von Zombies landen. Die sind nämlich dem Zug gefolgt und haben ihn nun, da der Zug anhielt, eingeholt. Dann haben sie Kimberlys Schrei gehört…

Räuspern und Rascheln im Publikum, ein Kind lacht schrill. 

Langsam setzt sich der Zug wieder in Bewegung und passiert die Grenze. Da stehen Menschen zu beiden Seiten der Gleise und applaudieren. Erst langsam und zaghaft, dann immer stärker und schließlich frenetisch. Rettet die Kinder!, rufen sie und: Willkommen! Willkommen, Kinder!
Fotografen veranstalten ein wahres Blitzlichtgewitter. Fast will Kimberly wieder in Ohnmacht fallen. Mit ihren fleischigen Fingern und langen, rosalila lackierten Fingernägeln krallt sie sich in Pedros Oberarm fest. Sophie und Monelisi haben Nila in ihre Mitte genommen. Monelisi macht unentwegt Klicklaute.
Willkommen! Willkommen! Kinder willkommen!, skandiert die Menge, als sie in eine Stadt einfahren. Da ist der Bürgermeister, um die Kinder persönlich in Empfang zu nehmen. Sogar ein Senator hat sich angekündigt. 

Clown August breitet die Arme aus und atmet aus. Dann holt er tief Luft und fährt fort.

Die Kinder steigen vom Dach des Zuges. Als erster springt Pedro, dann folgt Monelisi mit einem eindrucksvollen Sprung. Die Mädchen werden behutsam heruntergehoben. Dann wird die kleine Gruppe in ein großes, weißes Haus gebracht. Es ist dunkel geworden. Die Fenster des Hauses sind erleuchtet. 
Im Haus bekommen die Kinder zu trinken und zu essen. Anschließend müssen sie sich waschen und weiße Nachthemden anziehen. Eine dicke, schwarze Frau mit einer strahlend weißen Schürze nimmt ihre Kleider und bringt sie nach draußen. Sophie weint, Nila zittert. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren und großen, eindringlichen Augen bringt die Kinder in ein Schlafzimmer. Sie legt die Hand auf Pedros Schulter. Auch sie trägt eine strahlend weiße Schürze. Die Kinder dürfen alle zusammen in einem Raum schlafen. Die Frau zieht die Vorhänge vor den großen Fenstern zu, aber so, dass der Mond noch hindurchscheinen kann. Sie streicht jedem Kind über den Kopf
und wünscht ihm eine gute Nacht. Dann verlässt sie den Raum
und schließt die große, schwere Tür.
„Mama“, murmelt Pedro schon halb im Schlaf. 


August, der grüne Clown, legt den Zeigefinger an den Mund und lässt ihn auf seinen gespitzten Lippen ruhen. Aus einer der hinteren Reihen hört man leises Schluchzen. 
Das Publikum weiß nicht, ob es klatschen soll oder nicht.
Der Clown verlässt auf Zehenspitzen und mit dem Finger vorm Mund die Manege.
Die Musik spielt einen leisen Tusch. 
Das Licht geht aus. Es ist dunkel im Zelt. Doch durch einen Spalt zwischen zwei Zeltplanen scheint der Mond herein.


Oktober 2015



ISLAND

Juni 2015




I



Reykjavik





Die Nächte sind hell



Um ein Uhr verlasse ich das Hostel. Ich habe den ganzen Abend „Die Islandglocke“ gelesen, nun brauche ich einen Spaziergang und frische Luft. 

Die Luft ist immer frisch in Reykjavik, und die Sommernächte sind immer hell. Das macht die Zeit flüssig. Es gibt keine Sperrstunde. Die Dunkelheit ist ein Riegel hinter dem Tag. 

So ist die Welt einfach ruhig. Im milden Nachtlicht darf man ihr beim Ruhen zusehen.

Die Geschäfte in der tagsüber von Touristen überfluteten Laugavegur sind geschlossen. Die Straßen sind nicht leer, aber beruhigt. Vor den Bars stehen fröhlich Betrunkene. 

Ich streife durch die Straßen, begegne manchmal einem Menschen, manchmal bin ich alleine hier. Manche Fenster sind erleuchtet, Stimmgemurmel und Gelächter dringt aus geöffneten Fensterspalten. Die Welt ist ein monochromes Bild.

Verwundert spüre ich eine tiefe Erleichterung in mir, dass es nicht dunkel wird. Dass das Licht uns nicht verlässt. Die Wahrheit ist, dass die Dunkelheit doch eine tiefe Angst hervorruft. Wer oder was lauert darin? Ein Schlund, eine Tiefe des Unbekannten, ein Ende, ein Abgrund ist die Dunkelheit, auch wenn Mond und Sterne sie erhellen und darin strahlen. Die Dunkelheit ist eine Bedrohung, auch wenn sie schön ist.

Niemand wird hier müde, sogar der Schlaf ist hell. Die Träume sind Moos und Flusswasser. Im Sommer sind wir alle Islandpferde. Islandpferde laufen und laufen und laufen, sie sind unermüdlich; unerschöpflich ist ihre Kraft. Doch manchmal brauchen sie eine Pause, um am Moos zu riechen oder etwas zu zupfen oder die strahlend klare Luft mit einem Schluck Flusswasser zu trinken.

Die Sommernacht auf Island ist eine Pause.





Der Mann aus den Bergen



Heute im Supermarkt steht ein alter Mann vor mir. Er ist der erste Mensch, dem ich hier begegne, der einen unangenehmen, etwas beißenden Geruch verströmt. Seine Haut schält sich. Ein Elend sitzt an ihm wie eine Flechte.

Weißes Haar schwebt leicht und dünn um einen kleinen rosa Gletschersee auf seinem Kopf. Ein Bart fällt von seinem Kinn, der fahle Strahl eines Wasserfalls. Blaue Augen blitzen in seinem roten und weißen Gesicht. Er hat eine Krücke bei sich. Die Tasche mit den Waren, die er kaufen will, steht in einem Einkaufskorb unter dem Band an der Kasse. Dort warte ich hinter ihm in der Reihe und frage mich, wie er an den Korb mit seiner Einkaufstasche kommen kann. Schließlich bücke ich mich und ziehe den Korb unter dem Band hervor. Ich hebe ihn auf, um ihn für den Alten auf das Band zu stellen. 

Er schaut mich an, sein Blick trifft mich mit der Geschwindigkeit eines Blitzes, fahrig und etwas unkoordiniert greifen seine Hände nach mir.

Ich halte ihm den Korb entgegen, lächele oder grinse ihn an, irgendetwas dazwischen, was sagen soll, dass ich ihm helfen will, es aber sofort lasse, wenn er das nicht möchte.

Der Mann hat lange, weiße Fingernägel. Flechten sind darin eingewachsen, etwas Frost liegt darauf. Er muss irgendwo hoch oben zwischen Steinen und Schnee wohnen. Wie kam er in die Laugavegur?

Er beginnt etwas zu murmeln, macht Zeichen, die ich nicht verstehe und räumt dabei eifrig die Dinge aus der Tasche auf das Band, während ich den Korb halte. Dazwischen sendet er blaue Blitze aus seinen Augen aus. Darauf folgt ein Redeschwall, aus dessen Gurgeln, Glucksen, Brummen und Sprotzeln eine Frage herausfällt. 

Ich schaue zum Kassierer, einem jungen, freundlich amüsierten Studenten. Sofort ist er mit im Spiel und übersetzt: he wants to know where you’re from.

Germany, Thyskaland! Deutschland!

Der alte Mann murmelt auf deutsch und isländisch und packt die Waren wild auf dem Band herum, so dass sein und mein Einkauf durcheinander kommen.

Wir haben eine freundliche Dreier-Begegnung: der Student an der Kasse, der alte Berg-Elf und ich, die Thyskalanderin, wir scheinen uns alle daran zu freuen. 

Nachdem die Bezahlung erledigt ist, der Alte forderte mit eindringlich gemurmeltem Protest, dass der Student das Geld in seiner Hand noch einmal nachzähle, weil er glaube, dass hundert Kronen fehlten, da stehen der Gebirgsmann und ich zusammen am Ende des Bandes, wo unser beider Waren aufgetürmt liegen.

Er hat Tomaten, Bier und alte Bananen gekauft, mein Einkauf besteht aus Heidelbeer-Skyr, Keksen und Orangensaft.

Wie mir Island gefällt, meine ich zu verstehen, und es ist, als komme die Frage mehr aus seinen Augen hervorgeschossen, als dass er sie mit seiner Zunge artikuliert hätte.

Gut!, rufe ich aus. Sehr gut!

Er sieht mich mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Misstrauen an. Dann tritt er nah an mich heran. 

Berlin?, fragt er fast verschwörerisch. Glücksstadt?
Und auf Deutsch zischt er: Es gibt zu viele Diebe in Island! Dreihundertundtausend Menschen! Berlin! Glücksstadt! Kopenhagen!
Diebe! Verbrecher! Lumpengesindel!
Es klingt, als habe er mir eine wichtige Nachricht übermittelt.
Ich verabschiede mich freundlich und wünsche ihm alles Gute. Es geht eben nicht immer mit rechten Dingen zu da draußen in den Gebirgsstätten, wo einem Moosflechten in die Finger wachsen und daran haften bleiben wie das ewige Eis. 


Der Mann am Hlemmur Square

Nachdem ich mich einige Tag durch Reykjavik habe treiben lassen, ohne Fotos zu machen, ohne E-Mails zu schreiben und etwas auf Facebook zu posten, womit ich mich wohl zu einem touristischen Alien gemacht habe, war ich heute auf Foto-Safari. Auf dem Rückweg zum Hostel, es ist um Mitternacht, sehe ich auf einmal am Ende der Straße Blaulicht flimmern. Vor mir stehen Motorräder mit Polizisten. Gerade fahren sie los, auf das Blaulicht zu. Ah! Ein Überfall! Feuer! Verbrechen! Gefahr! Crime Scene Reykjavik!
Ein paar Schaulustige stehen herum. Da sehe ich, dass ein Haus, ein ganz normales isländisches Fertighaus durch die Straßen gefahren wird; wahrscheinlich, um irgendwo aufgebaut zu werden, wo es ein Zuhause für ganz normale Isländer sein wird.
Oder hat das Haus falsch geparkt?
Schnell hole ich die Kamera hervor und knipse eine Fotostory, wie das Haus, begleitet von Polizei-Motorrädern mit Blaulicht, um die Ecke verschwindet.
Zum Abschluss will ich noch Fotos von der Bronze-Skulptur am Hlemmur-Square, direkt hinter meinem Hostel, machen. Hlemmur-Square ist heute ein Stadtbusbahnhof. Früher kamen hier die Reisenden hin, um ihre Pferde zu tränken. Die Bronze-Skulptur, auf die ich aus dem Fenster des Gemeinschaftsraumes im Hostel schauen kann, zeigt eine Stute mit ihrem Fohlen. Die Stute trägt lange Stangen, die wohl zum Bau verwendet werden sollten, das Fohlen aber sucht am Bauch seiner Mutter nach Milch.
Da jetzt kein Mensch außer mir am Hlemmur-Square ist, lasse ich meine Umhängetasche und meine Kameratasche auf einer Bank liegen, gehe zur Skulptur und knipse los. Dann aber merke ich, dass ich die Taschen dabei nicht im Auge behalten kann.
Ein junger Mann hat sich auf die Bank daneben gesetzt, und zwar an das Ende neben der Bank mit meinen Taschen. Er trägt abgewetzte Klamotten, einen Bart und Kapuze. Ich beschließe, ihn nicht für einen Dieb zu halten und weiter zu machen. Immer wieder schaue ich aber zu meinen Taschen. Dabei sehe ich, dass der Mann mich beobachtet. Nun will ich ihn ja nicht in Versuchung führen, wenn nicht geradezu auffordern, meine Tasche mit all meinen Papieren und der Reisekasse an sich zu nehmen. So gehe ich in aller Ruhe zur Bank, um meine Sachen zu holen. Der Mann steht auf und stellt sich vor mich hin. Mit großen, hellen Augen sieht er mich geradewegs, eindringlich und ein wenig entfernt an. In der Ferne hat sein Blick etwas Lauerndes,  Aggressives. Er fragt mich, ob ich ihm eintausend Kronen geben kann. Ich schaue ihn eine Weile an und überlege, dann antworte ich wahrheitsgemäß mit: yes. 
Ich krame mein Geldbeutel aus der Tasche hervor, was mir nicht angenehm ist unter den aufmerksamen und etwas lauernden Blicken des jungen Mannes nah vor mir. Dabei überlege ich, ob ich nicht einen kleineren Schein habe oder ihm nicht doch nur einige Münzen geben sollte, denn eintausend Kronen sind doch schon recht viel Geld. Doch nun habe ich schon ja gesagt, und schließlich könnte er mit seiner harmlosen Frage ja auch dieses gemeint haben: dir ist doch klar, du leichtsinnige Touristin, dass ich mit Leichtigkeit deine Tasche hätte klauen können? Ist es nicht gerecht und sehr viel anständiger, um ein Geschenk zu bitten?
Und so überreiche ich dem Mann, der kein Dieb ist, den Tausend-Kronen-Schein als Geschenk. Er nimmt ihn und bedankt sich freundlich, aber ohne zu lächeln. Ich meine aber ein gewisses Erstaunen auf seinem Gesicht abzulesen. Er starrt mir weiter ins Gesicht und fragt schließlich: do you like Iceland? Do you like it here?
Yes!, sage ich, yes, I do!
Ist es gut, unser Land, so weit weg im Atlantik, so kalt, so isoliert bis noch vor Kurzem, bevor die Million Ausländer kamen, um den Sehenswürdigkeiten wie Wasserfällen, fauchenden Geysiren, Vulkanen, schwarzen Lavastränden und bunten Papageientauchern die bisher ziemlich unbehelligten Seelen aus dem Leib zu fotografieren, wodurch sich das kalte, aber im Sommer helle und auf so eigenwillige und besondere Art und Weise attraktive Eisland aus der Wirtschaftskrise zog?
Der junge Isländer wünscht mir einen guten Abend und ich ihm auch. Dann gehen wir beide wieder an die Arbeit und unserer Wege.


Der Dichter an der Laugavegur

Es ist Sommer und ein Kunstfest in der Hauptstadt Reykjavik. Ich habe das Glück, einem Zug junger, wohlgestalter Menschen zu begegnen, die mit neongelben Westen einen Mann in ihrer Mitte über die Haupt-Einkaufsstraße, die Laugavegur, geleiten. Auf einer Art elastischer Schlittenschuhe schwingt er vor und zurück, auf und ab, während er geht. Es erscheint mir so, als ob diese Schuhe eigens für diesen Anlass konzipiert und konstruiert wurden, um durch diese Art des erhabenen Gehens die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit der menschlichen Gangart und Fortbewegung zu lenken. Der aufrechte Gang unterscheidet den Homo erectus zwar von Katzen, Islandpferden, Schafen und allen anderen Vierbeinern und zeigt seine Vorherrschaft in der Evolution, doch sind die Beiwerke dieser Evolution wie Kultur und Zivilisation denn immer ein Vorteil? Wie privilegiert oder etwa degeneriert sind wir Schuhe tragende Menschenrasse denn? Oder um gar mit Shakespeares Hamlet zu fragen oder auszurufen: What a piece of work is a man! How noble in reason, how infinite in faculty! In form and moving how express and admirable! In action how like an Angel! In apprehension how like a god! The beauty of the world! The paragon of animals! And yet to me, what is this quintessence of dust? 
In großer Konzentration, Würde und Ernsthaftigkeit bewegt sich dieser Zug voran, ohne den Menschen am Rande Beachtung zu schenken. Ich sehe und würdige diese Aktion als Kunst-Vorführung oder Performance. Ohne Sinn, aber mit Verstand. 
Auf einer Bank an ebendieser Straße sitzt auch ein junger Mann und schreibt. Neben ihm steht ein Schild mit einer isländischen Aufschrift, die ich mir von ihm übersetzen lasse: ich bin im Dienste der Stadt Reykjavik. Darüber steht, für mich und andere Ausländer gleich verständlich: FREE HAIKU.
Der Dichter fragt mich, nachdem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich sein Angebot sehr gerne annehmen möchte: what is your thing? What do you like? What is your favourite thing?
Ich antworte: my love, und denke schon, als ich diese zwei bedeutungsschweren Worte ausgesprochen habe, o nein, wie doof! Doch der Poet hat den Auftrag schon angenommen, denkt nach, konzentriert, fast grüblerisch, hält den Stift bereit zur Niederschrift. Auf der ganzen Breite seiner Stirn spielen die Falten wie munter angeregte Wellen.
Dann bekomme ich mein Gedicht:

love is a very
big thing for such a small and
little poet, ok?

Ok.


Die Klais-Orgel in der Hallgrimskirkja

Heute, an einem trüben Sonntag, gehe ich in die Kirche, in die Hallgrimskirkja. Denn ich will unbedingt diese Orgel hören.
Der Gottesdienst beginnt. Die Kirche, ein hoher, gotischer Betonbau, innen  völlig schlicht und fast schmucklos, wird vom fahlen Tageslicht erleuchtet, das durch die Fenster hinter dem Altar fällt. Der einzige Schmuck sind zwei Blumensträuße auf dem Altar.
Die Orgel spielt. 5.275 Orgelpfeifen hat die Klais-Orgel. Sie wurde von Orgelbauer Klais aus Bonn gebaut, der seinen Betrieb um die Ecke von meinem Atelier hat und immer großzügig Holz für meine Kinderprojekte spendiert. Sein Sohn hat vor vielen Jahren sogar bei einem dieser Projekte mitgemacht, als wir einen riesigen, begehbaren Wal ganz aus Holz und Papier bauten.
Nun bin ich in die Hallgrimskirkja gekommen, um die Orgel zu hören. Ich werde dem ganzen Gottesdienst beiwohnen und interessiert der Liturgie und der Predigt auf Isländisch zuhören.
Die Orgelmusik erfüllt den Kirchenraum, die Flügeltür öffnet sich. Die Köpfe der Gemeinde drehen sich nach hinten. Durch den Gang schreiten: ein Mann mit einem schlichten, hölzernen Kreuz, das er dem Zug voran trägt, hinter ihm ein Mann und eine Frau, die ein Kind im Taufkleid hält, dann folgen ein paar feierlich gekleidete Menschen. Der Kirchenchor hebt an zu singen. Es ist mir etwas peinlich, dass mir die Tränen in die Augen treten, weil mich die Musik und der Gesang so direkt berühren. 
Die angenehme, unangestrengte Stimme des Pastors wird durch die Lautsprecher gleichsam ausgesprüht. Dieses hohe Gotteshaus ist dem Wort, dem Geist und dem Klang geweiht.
Und dem lutherischen Glauben.
Touristen und Gläubige füllen den Raum. Die Touristen, die manchmal miteinander sprechen, ihre Handys zum Fotografieren zücken und dann wieder gehen, bekommen nicht immer freundliche Blicke von den Protestanten.
Doch einmal, mitten bei der Taufhandlung, macht der Pfarrer im grünen Ornat mit weißer Halskrause einen Witz, und die ganze Gemeinde lacht.
Ich widme mich dem Zuhören dieser Sprachmelodie und lasse die Bilder aufsteigen: braune Berglandschaften mit Schneeflecken, Worte als springende Lachse. Die Bilder kommen und gehen, sie reisen wie in weichen Träumen.
Dann studiere ich die Gemeinde. Menschen mit Fischgesichtern, Mühselige und Beladene. Ein junger, kräftiger Mann mit Klumpfuß, eine wahrscheinlich psychisch erkrankte Frau mit großen, gläsern schimmernden Wasseraugen, riesigem, hängenden Bauch und strähnigem Haar. Später sehe ich sie in der Stadt an verschiedenen Orten auf einer Bank sitzen. Ein Mann sieht aus wie ein Märtyrer auf einem Heiligenbild, mit dicker, dunkler Ölfarbe gemalt. Ich sehe viele weiße Gesichter, Männer und Frauen, Väter und Mütter. Ein Mann im Kirchenchor trägt einen kahlen, mit Schweinchenrosa bis Krebsrot übergossenen Kopf auf einem Gigantenkörper in schwarzem Anzug. Wer jetzt nicht an Trolle oder Berggeister glauben kann, dem ist nicht zu helfen. Fischer, Seeräuber, Soldaten, Bauern, Totschläger, Heilige. Wohlgekleidete, üppige Pietistinnen, denen der Anstand ins Gesicht gezimmert ist; ein Möbelstück der Gesichtsausdruck, ein wenig Bitterkeit verströmend wie eine leicht ranzige Politur. Feine Damen. Menschen mit kurzen Nasen und hellen, manchmal weit auseinander stehenden Augen.
Die Mähne des Pfarrers leuchtet weiß, Gemeinde-Stuten beißen und schlagen aus. Männer stehen wie Lavagestein. Der Chorgesang und die Orgelmusik schaffen eine Atmosphäre von dunkelgrünem Moos. Pferde schweben darin wie Fische.
Eine der Chorfrauen hat so große Augen, eine so große Nase und einen so großen Mund mit vollen Lippen. Sie bewegt ihre Augen, ihre Nase, ihre Lippen, den ganzen Körper innig schaukelnd und wiegend, während sie singt. Sie ist eine tanzende Pferdefrau mit Fisch-Einschlag, weiß schimmernden Schuppen und Tran in der Stimme.
Ich fische Wörter: Der Allmächtike, Bösewiki, Hymni, Fiski, Flora und Fauna. In der Predigt spricht der Pfarrer von Mark Twain, Touristi und erwähnt den Whiskey.
Da fühle ich mich doch angesprochen. 
Eine Oblate aber zum Abendmahl brauche ich nicht. Dabei werden die Ausländer extra eingeladen: all of you, all the foreigners, are welcome.
Die meisten Menschen treten nun aus den Bänken hervor und stellen sich in zwei Reihen im langen Mittelgang der Kirche auf. Vorne steht der Pfarrer und teilt mit Hilfe zweier Frauen das Abendmahl aus: eine Oblate und ein Schluck aus dem Kelch für jeden Mann und jede Frau, die vor ihn treten. Der Leib Christi, für uns gestorben; das Blut Christi, für uns vergossen. Schritt für Schritt bewegen sich die Menschen nach vorn. Weitere Gläubige stellen sich hinten an. Nur langsam werden die Reihen kürzer. 
Während dieser ganzen Zeit, bis alle das Abendmahl empfangen haben und wieder in ihren Bänken sitzen, bis auch der Pfarrer und die beiden Frauen vom Leib Christi gegessen und von seinem Blut getrunken haben, spielt der Organist die Orgel.
Er bedient das gigantische Instrument von einer Apparatur im Kirchenraum aus, die mit den Pfeifen auf der Empore hoch über uns verbunden ist. So kann man dem jungen Mann im schwarzen Anzug zusehen. Man kann aber auch die Augen schließen und sich ganz der Musik hingeben.
Sie erklingt in hölzernen und metallenen Registern von Fisch bis Pferd, von Flöte bis Bass, zieht wie ein Brachvogel durch die Höhen und Tiefen des Raums. Sphären um Sphären um Sphären erschafft der Organist; jagt Töne, Pfiffe und Klänge durch Flora und Fauna und die Fischbestände Islands. Die Sphären lösen sich auf, werden zu Schleifen, winden sich ineinander; zwischen ihnen entsteht ein etwas zischender Gesang. Und schließlich fliegt die Gemeinde mit ihren Pietistinnen, Bauern, Soldaten, Fischern, Märtyrern, Mühseligen und Beladenen und dem Taufkind im langen, weißen, mit rosa Schleifen verzierten Kleid herum, um sich im Dunst des Geistes, in der Gischt des Wortes und in der Tiefe des Glaubens aufzulösen oder an schwarzen und roten Felsen und Klippen da draußen auf See zu zerschellen. 
Zwei Kleinkinder mit flaumbedeckten Schädeln bleiben zurück. Sie stapfen, tanzen, fallen und werfen sich auf den Boden im Gang zwischen den Sitzreihen, wo eben noch die Gemeinde saß. Sie lachen und weinen, und ihre langen, mit Pailletten bestickten Kleider sind voller Schnodder. Da kommen der Troll im schwarzen Anzug und die innige Pferdefrau mit Fisch-Einschlag zurück aus dem Himmel, und begleitet von ihrem wunderschönsten Gotteslob und Gesang nehmen sie die beiden Kinder und tragen sie zum Dröhnen der 5.275 Klais-schen Orgelpfeifen hinaus in den friedlichen, wolkenverhangenen Sonntag. 
Im Vorraum steht wieder die Gemeinde, trinkt Kaffee und erzählt sich Geschichten von Märtyrern und Totschlägern. Der Pfarrer hat seinen grünen Talar und die Halskrause abgelegt und macht einen Witz.


12 tonar

Would you like to drink an espresso, while you are listening?, fragt mich der kahl- und riesenköpfige Musikliebhaber in seinem Laden 12 tonar, geradewegs die Straße von der Hallgrimskirkja hinunter in Richtung Laugavegur gelegen. Ich sitze wieder einmal in einem der bequemen, etwas zerschlissenen roten Samtsessel, habe einen Kopfhörer auf, der in einem der blauen CD-Spieler steckt und höre Musik. Für die Gastfreundschaft bedanke ich mich mit Zeichnungen ins Gästebuch. Der Musikliebhaber und Geschäftsinhaber sitzt in einem anderen Sessel unter kleinformatigen abstrakten Bildern, die zu einer Kunstausstellung gehören und unterhält sich mit einem Freund. Er gibt ihm Bücher und serviert Espresso. Mit ruhiger Hand gießt er aus einer großen Flasche etwas durchsichtige Flüssigkeit dazu.
Ich suche diesen Laden einige Male auf. Immer ist der Mann gleich freundlich zu mir, auch wenn ich bisher noch nichts gekauft habe. Musikhören ist hier wie Kaffee oder Wasser zu trinken. Man muss es eben tun. Es ist existentiell, und man macht kein Aufhebens um das Geschäft. 
Bei meinem letzten Besuch kaufe ich dann Musik, um sie mitzunehmen nach Thyskaland: Isländische Rímur-Dichtung aus der Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: „Stafnbúi“ von Steindór Andresen vorgetragen und von Hilmar Örn Hilmarsson mit musikalischen Kompositionen begleitet. Björks „Biophilia“. „Rokk i Reykjavik“, eine Doppel-CD mit einer Compilation aus den 1980ern, deren Cover eine blutjunge Björk in gelbem Kleid und mit rot bemalten Wangen als Sängerin der Band Tappi Tíkarrass schmückt. Den Film „Hross í oss“, „Ross und Reiter“, eine isländisch-deutsche Produktion von Regisseur Benedikt Erlingsson aus dem Jahre 2013, die uns zuhause begeistern, aber vor allen Dingen erstaunen wird. Isländischen Reggae von „AmabAdama“.


Töchter Reykjaviks

Über You-Tube-Videos von AmabAdama stoße ich auf dieses feministischen Hip-Hop Kollektiv, bestehend aus rund zwanzig Frauen, exzellenten Sängerinnen und Performerinnen, die sich trotz Rapper-Gebaren in eigenwilligen, unkonventionellsten, aber unbeschreiblich weiblichen Manieren und Verkleidungen präsentieren; durch Reykjaviks Straßen ziehen, durch das Hafengelände, über die Laugavegur, oder sich in wild-kreativen Sets austoben. Frida-Kahlo-Rap. So etwas schon mal gehört und gesehen? Sucht nach den „Reykavíkurdaetur“ in den Weiten des Internets; in den Plattenläden und Veranstaltungskalendern vor Ort sind sie mir verborgen geblieben. Die Texte verstehe ich natürlich nicht, nur wieder Fetzen: Feministi, Ding Dong, fuck, fucking, fuck! Ich lese aber, es gehe um Spiritualität, Politik und Anal-Sex.
Die feministische Szene ist präsent im Straßenbild Reykjaviks. Nicht zuletzt prangt ein  großes Banner der Guerilla-Girls auf einer riesigen Häuserfassade am Hafengelände. Guerillagirls auf der Titelseite von Magazinen und in Programmheften und Flyern der Kunstszene. Eine Ausstellung in der Stadtbibliothek zum 100. Jahrestag Frauenwahlrecht in Island. Zweimal finde ich eine Plakette an einer Häuserwand, die auf eine Dichterin hinweist. Ich halte an, krame Stift und Papier aus meiner Tasche und notiere: Málfidur Einarsdóttir, 1899 bis 1983, „A place to belong“, veröffentlichte im Alter, Ende 70, „Samastadur i tilverunni“. Schrieb schon seit Jahrzehnten. 
Theodóra Tharóddsen (skáld), 1863 bis 1954, „thula“.
Die augenfällige Präsenz der Feministinnen, ob ernsthaft oder lustig, frech und knallig, beschränkt sich im Großen und Ganzen auf Außenmauern und die schnelllebigen, herumliegenden Druckerzeugnisse. Die Buch- und Plattenläden, die Bibliotheken und Museen repräsentieren die zutiefst patriarchale Kulturgeschichte Islands. Die Feministinnen sind daraus auferstanden, bleiben aber weitgehend außen vor. Schauen von den Fassaden einer Saga-verwurzelten Gesellschaft. Das heißt nicht, dass Frauen diese Gesellschaft nicht auch selbstbewusst repräsentieren, ihren eigenständigen Platz darin haben, sie gestalten und verändern. Vigdís Finnbogadóttir war von 1980 bis 1996 Präsidentin von Island und damit das erste demokratisch legitimierte weibliche Staatsoberhaupt eines europäischen Landes.
Jóhanna Sigurdardóttir, Premierministerin von 2009 bis 2013, heiratete eine Frau. Sie war die erste offen homosexuelle Regierungschefin. Die Künstlerin Björk glänzt als international berühmte Diva und Aushängeschild. Die isländische Eisprinzessin aber ist eine Ausnahmeerscheinung, wenn auch typisch untypisch isländisch.
Auf, auf, ihr Töchter Reykjaviks! Tanzt, singt und macht Politik!


Mossa

Ich liege im zottigen, weißgrünen Gras am Ufer eines Wassers, das wahrscheinlich zum Meer gehört. So genau wissen das meine beiden schwedischen Guides nicht, auch wenn die eine seit ein paar Monaten hier lebt und Pferdetouren mit Touristen führt. Heute bin ich die einzige, die den Tagesritt „Beachtour“ von Thorlakshöfn zurück zum kleinen Hof nach Ölfus gebucht hat. Auch wenn im Hochglanz-Flyer von Sólhestar steht, dass dafür eine Mindestanzahl von Teilnehmern erforderlich sei, bekomme ich nun schon zum zweiten Mal eine Tagestour alleine, als einzige Kundin. Heute habe ich sogar zwei Guides, denn die eine ist neu und lernt gerade die Routen kennen. Beide Male haben wir strahlenden Sonnenschein. Der Himmel ist tiefblau, die Sicht ungetrübt bis zum Ende der Welt. Als wäre das völlig selbstverständlich hier.
Über mir schnaubt es warm und wohlig aus dunklen, weichen Nüstern. Dazu mischen sich die Mahlgeräusche Gras kauender Pferdemäuler. Eines ist direkt über meinem Kopf. Auf dem Rücken liegend schaue ich in die Nüstern hinein wie in Maare. Einzelne lange Grashalme stehen an ihren Ufern. Dann nehme ich die Videokamera und halte sie vor mein Gesicht. Stelle scharf. Nahaufnahme. Drücke den roten Knopf. Aufnahme läuft.
Während ich den ersten Ausritt ins Gebirge zu den heißen Quellen ganz ohne Kamera genossen habe, musste ich sie heute mitnehmen. Unbedingt. Ich drehe mich auf den Bauch und lege die Kamera auf den Boden vor mir, damit das Kameramikrophon ganz von den zottigen Grashalmen geschützt wird. Hier am Boden ist das Gras dicht genug, der Wind macht mir sonst die Aufnahme kaputt. Es wummert und macht hässliche Kratz- und Stoßgeräusche, wenn ein auch nur schwaches Lüftchen auf das Mikrophon ohne Windschutz trifft. Fast wichtiger als die Videoaufnahme ist mir aber heute, dieses Mahlen und Schnauben, begleitet vom Rascheln des Grases, wenn ein Pferdehuf hindurch geht, aufzunehmen. Ich möchte ihn immerzu hören, diesen Klang höchster Zufriedenheit! 
Dabei möchte ich einschlafen und von Islandpferden träumen, und beim Aufwachen steht Mossa über mir und fragt mich, ob wir zusammen durch das Moos tölten sollen. Ich steige auf und sitze auf ihrem Rücken wie in einem Sofa. Das Sofa steht in einem Elfen-Luftschiff, das sich schwebend und fahrend zugleich, bequem, leicht und schnell auf jeden Horizont zubewegt. Mossa trägt mich über schwarze Lavastrände, durchquert Flüsse, Seen, Fjorde, Moore, Hochebenen, Täler, Lavafelder; sie läuft durch Wind und Wetter. Von selbst hört sie nicht auf zu tölten und zu galoppieren, und sie zeigt mir auch den Pass, ihre fünfte Gangart. Nun fragt sie mich, ob ich noch mehr von Island sehen möchte. Ob ich einmal mitkommen mag über den kleinen Gebirgszug zum Thingvellir, wo die amerikanische und die eurasische Kontinentalplatte sich treffen und auseinanderdriften; diese Spalten dort können wir einfach überspringen, sagt sie, dann laufen wir weiter und umrunden den ganzen See, den Thingvallavatn, den größten und schönsten See Islands, schnaubt Mossa, sie kann ihn natürlich auch der Länge nach durchschwimmen. Vielleicht möchte ich doch auch einmal die Westfjorde sehen und bis ins Nordland reiten. Wir überqueren die Gletscher, Schneefelder und Vulkane ohne Mühe. Wir werden nicht müde, wir haben keinen Hunger und keinen Durst. Wenn wir angekommen sind, wo wir hinwollten, machen wir eine Pause. 
Ich wache auf. Die Mittagspause ist vorbei. Wir packen alles in die Satteltaschen, Wasserflaschen und Lunchboxen, die Kamera verstaue ich in meinem Rucksack. Der Ritt geht weiter. Etwa dreißig Kilometer tölten und galoppieren wir die meiste Zeit. Wir machen zwei Pausen. Ich höre den Wind, die Pferde, Vogelgesang und zwei junge, schwedische Frauenstimmen. Die meiste Zeit unterhalten sie sich untereinander. Skandinavische Singschwanmelodien aus Mädchenkehlen. Ich darf ihnen zuhören und habe meine Ruhe. Ab und zu fragen sie: are you all right? Is everything fine? Aber ja, very fine indeed!
Die Wetterwolke, die auf uns zukam und so aussah, als wolle sie uns in einem Haps verschlingen, hatte es sich plötzlich anders überlegt und war auf einmal verschwunden.
Die Elfensofas fahren weiter durch die Luft, berühren die weiche Erde immer nur kurz mit ihren Hufen, drei, zwei, eins im Zweiertakt, im Dreiertakt, im Wechsel, tipp, tipp, tapp, klapp, tack, tack. Die Erde dröhnt und vibriert, die Rockstar-Mähnen der Pferde wehen und glänzen in Sonne und Wind, rot, braun und schwarz, die bunten Felle leuchten und unsere Augen leuchten. Wir schreien und rufen: wir kommen, wir kommen! Die Islandpferde kommen!


Eine andere Zeit

Ich sitze in der Hostel-Lounge und bin umgeben von Menschen, die sich fast alle fast ausschließlich mit ihren Smart- oder iPhones, Tablets oder Laptops beschäftigen. Warum ist alles andere interessanter und wichtige als das, was hier ist?
Es ist Happy Hour, es gibt ein Jazzkonzert, for free! Ein Wunder, dass sich noch ein paar Menschen unterhalten und zuhören. Das Mädchen an der Bar zeigt ihr neues Tattoo. Knips, lächel, post.
Manche Menschen würden einfach zu Staub zerfallen, wenn man ihnen ihr elektronisches Gerät wegnähme. Was für ein Frust! Verzweifelte junge Menschen auf Reisen. 
Was war früher? 
Ich erinnere mich an einen Deutschen, den ich auf einer Reise Ende der 80er Jahre in einem Traveller-Hostel in Cairo traf. Er war irgendwie gestrandet, hing dort schon eine ganze Weile ab und kam nicht mehr weiter. Er hatte eine punkige Frisur, erinnere ich mich, war immer in Grün gekleidet und sang, oder besser gesagt schrie den ganzen langen Tag den von ihm komponierten Song „Langeweile“ aus sich heraus. Langeweile! Vier Töne, aufsteigend, eine Aussage, tausend Wiederholungen, ein Loop. Das war immerhin ein Ausdruck, eine klare, direkte Mitteilung an die unmittelbare Umwelt.


Das seltsame Kunstmuseum und seine Nachbarschaft

Ich muss mich geirrt haben.
Das weiße Gebäude, angeblich eines der drei Kunstmuseen der Stadt Reykjavik, etwas außerhalb, am Ufer des Atlantik gelegen, in Sichtweite der Fähre zur Insel Videy, sieht völlig verlassen und bedeutungslos aus. Besonders sei die Architektur dieses Skulpturenmuseums. Wie kann ich mich verfahren haben? Laut Stadtplan muss ich hier richtig sein.
Das Meer glänzt, der Himmel ist von einer sanften Helligkeit überzogen; ferne Wolkengebirge spiegeln sich im Meer. 
Am Ufer wurde ein weißes Gebäude zwischen Lupinen und Angelika abgestellt und vergessen. 
Eigenartige Skulpturen aus Holz und Stein stehen herum und schauen mir entgegen. Eine Geige dringt aus dem Inneren des Gebäudes. 
Kunstmuseum mit Skulpturengarten?
Nun bin ich am Haus. Durch die Fenster sehe ich um Tische angeordnete Korbstühle, die mir sagen, dass dies ein Museums-Café sein soll, falls dies ein Museum ist.
Ich gehe um das Gebäude herum, vorsichtig und neugierig. Man weiß ja nie, ob es in diesem Island nicht doch Hexerei gibt. Wenn, dann gibt es sie hier. Das steht fest.
An der Haustür finde ich ein Schild mit der Aufschrift Museum. Oder stand da eben noch Kunigunde Meier aus Thyskaland? Lebt sie noch?
 Ich gehe weiter, vielleicht begegne ich jemandem. Vielleicht ist hier noch jemand, der ein Museum mit Skulpturengarten besuchen will?
Viel interessanter finde ich das Nachbargrundstück. Ich werde geradezu magisch angezogen. 
Was wartet dort?
Ein Nagelkreuz, zusammengeschweißte Gestalten, Geister, Seevögel aus Draht, aus Stahl geschnittene Monde, Robben, Kugeln, Wesen: Voodoo aus Holz, Eisen, rostigen Blechen, Draht und Stahl; montiert, zusammengestellt, gebaut, verschraubt, verstreut bis ans Meer. Eine kleine Bucht mit Steinhaufen ist zwar zugänglich, wirkt aber privat. Hinter der offenen Tür eines Schuppens erkenne ich einen riesigen Wal-Wirbel. Natur wird wieder zur Natur über den Umweg der Kunst. Durch ein Fenster sehe ich aufgetürmte Pappkartons. Ganz hinten im Raum das Bild Che Guevaras. 
Ich bleibe auf dem kleinen Weg, der sehr nah an das Haus heranführt, und mache Fotos. Auf keinen Fall darf ich von den Lupinen oder der Angelika naschen, sonst würde ich mich augenblicklich in eine Skulptur aus rostigem Eisen oder Holz verwandeln. Wenn ich Pech habe, werde ich mit Farbe übergossen und Nägel werden in meinen Skulpturenkörper getrieben. Nein!
Ich sollte mich auch nicht umsehen und sollte wachsam sein. 
Es kann nicht sein, dass Jemand hier ist.
Es kann nicht sein, dass Niemand hier ist.
Ich gehe weiter. Finde ein Schild an dem kleinen Weg, der am Hause des Magiers vorbeiführt. Es weist auf den Bildhauer im Museum hin. 
Ich frage mich, wie die beiden Künstler miteinander verbunden sind. Oder driften auch hier zwei Kontinentalplatten auseinander? Berühmte Künstler existieren in einer anderen Welt als unberühmte Künstler. Sie sind füreinander unsichtbar, auch wenn sie dieselben Geister anrufen mögen. Ruhm ist ein Gebäude, das es vermag, das Wesentliche unsichtbar zu machen. 
Auf dem Schild sehe ich auch eine Zeichnung des Weges, das zum Museum führt. Deutlich ist darauf zu erkennen, dass die Bucht mit dem Walwirbel im Schuppen privat ist. Vorsicht, Magie! 
Lupinen und Angelika wachsen auf der Lava und verwandeln alle Kunst in Natur und alle Natur in Kunst hin und her und wieder zurück, und manchmal gerät etwas durcheinander.

Ich wandere weiter, zurück in Richtung Reykjavik. Ich höre eine Kinderstimme aus dem Haus rufen: Mamaaaaa.


Zum Schluss

Kakao mit Sahne und einem Schuss Whiskey aus meiner kleinen Plastikflasche im Buch-Café in der Nähe des Hafens. Gute Musik. Lesen und Schreiben. Genuss.
Menschen singen lauthals auf der Straße. Der Betreiber eines Kinos auf seinem Dachboden zeigt die Naturfilme seines Vaters in falscher Auflösung mit falschem Seitenverhältnis. 
Im Vulkan-Kino sehe ich einen Film über den Ausbruch des Eldfell-Vulkans auf den Westmänner-Inseln 1973. Menschen schaufeln Asche mit Schäufelchen von ihren Dächern. Eine Lavamasse wird von Wasser aufgehalten, das mit Schläuchen aus der See geholt wird. Eine schwarze Wand, haushoch, gespenstisch, bleibt vor der Straßenschlucht stehen. 
Mein Lieblingsbild: ein Feuerwehrmann zündet sich vor der brennenden Lava eine Zigarette an.
Ganz zum Schluss: In der von Touristen überschwemmten Hauptstadt Reykjavik denke ich an das Jahr 1999, als ich mit meinem heutigen Ehemann schon einmal hier war. Da haben wir weit und breit keine Touristen gesehen! Und heute, bei meiner Ferienwoche im Juni 2015, war ich zwei Mal einziger Gast im Touristen-Kino und habe zwei Mal einen Tagesritt als einzige Reit-Kundin mit exklusivem Guide bekommen. Gibt es so was? In Island schon.



II

Am Stiflisdal-See

An diesem wunderbaren, fabelhaften Ort etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Reykjavik hatte ich einen Aufenthalt mit vier anderen deutschen Künstlerinnen und einem Isländer. Eine der Künstlerinnen ist die Gastgeberin. Sie ist verheiratet mit dem Isländer, dem ein Hektar Land, der See und eine kleine, rot gestrichene Hütte am See gehören. Margret und Sverrir sind gute und gütige Menschen. Sie haben meinen größten Respekt und Dank für ihre  große Gastfreundschaft und Freundlichkeit.
Margrets Einladung nach Stiflisdal an den See folgend, bin ich also nach Island gekommen und habe mir zuerst eine Woche alleine in Reykjavik gegönnt. Auf diese Insel kommt man nicht alle Tage! Island ist ein teures Land, und ich bin eine kirchenmausarme Künstlerin. Doch ich bin gekommen, es ging also irgendwie. 
Und nun verbringen wir, nachdem wir drei Tage zusammen mit einem Mietauto und unter Sverrirs hervorragender Führung das Land bereist haben, sechs Tage am See.
Das strahlende Sonnenwetter hat sich plötzlich verabschiedet. Wolken sind aufgezogen und hüllen den See und uns ein. Es ist kalt und nass. Wasser steht im Zeltwagen, obwohl er nagelneu ist. Nachts fällt das Thermometer bis auf Null Grad. Tagsüber laufen wir herum, wandern am See entlang, über das Moos. Alles ist nass. Wir trocknen Socken und Hosen und Pullover über dem kleinen Ölofen in der Hütte, der die Stube heiß, zu heiß macht. Ich merke, wie meine empfindlichen Bronchien sich vollsaugen wie das Moos. Es gluckert und rasselt in mir, wenn ich atme. Ich bin wieder im Atemwegs-Gestrüpp verfangen. Ich bekomme Fieber und Schüttelfrost, meine Glieder schmerzen. Wir drängen uns. Wir halten uns aufrecht, wir kompensieren, sind gesellig, spielen und singen abends am Abendbrottisch. 
Ich kämpfe mit einem Phantom. Meine innere Stimme bekämpft es, schreit es an, kämpft mit ihm wie Jón Hreggvidsson mit dem Riesenweib im Moor, wovon ich in der „Islandglocke“ gelesen habe.
Ich habe meine Literatur, zwei Bücher von Halldor Laxness zu Ende gelesen: „Atomstation“ noch im Flugzeug, dann kam das Monumentalwerk „Die Islandglocke“ dran. Nun bin ich geprägt und gesättigt fürs Erste. 
Ich kann nicht schreiben und nicht mehr lesen und mich nicht entfalten. Mein Phantom ringt mich nieder.
Ich schaue aus dem Fenster in die Tag- und Nachthelligkeit. Sie durchdringt jede Wolkendecke und den Nebel. Ich fliehe in die starken Arme der Natur und lasse mich von ihren zarten Flügeln einhüllen.
Dann begebe ich mich in den Tunnel des automatischen Schreibens:

Stiflisdalur

18. Juni 2015

I

unweit von hier/ im Angesicht einer keifenden Elfe/ erkältet sich/ die Erinnerung// gebiert Krankheit über Krankheit// und über die Gebirgsketten/ sprüht der feine Regen// 
Traumlose Bären streifen durch Täler des Vergessens// Hunger und Glück// nackte, weiße, zarte, gegerbte Körper stehen im Moos und in den Seen// Es sind Lämmer und Menschen, Frauen und Männer// Die Welt ist gekommen zur Jungfrauenauffrischung// Es geht vorbei der eilige Wind/ auf Erdbeerschuhen// und säuft allein// hat sich verschrieben/ der Erinnerung/ und sein Herz kocht in der Hölle// Er singt seine Rímur// Gedichte aus einer unbestimmten Zukunft, weiß wie Nebel und hell wie hell// Sein Leben lang hat er Jungfrauen zerstückelt und gefressen, weil er sie für Schwäne hielt/ und sein Bauch ist dick und blau und widerlich// auf seiner Zunge wächst Schnee// Er ist ein versöhnlicher Geist// verurteilt von Göttern und Menschen/ vielfach// und in Erdspalten gesteckt zu ersticken, zu verhungern, zu ertrinken// Was ist nur los/ mit diesem Fieber, dass es in einer solchen Sprache spricht?// Jedes Wort versinkt/ einzeln// Ein Grashalm verschwunden im See// Viele Grashalme stehen zusammen/ und hören nicht auf Musik zu machen und Melodien zu singen, zu erfinden// Reime// Rímur// Ein Kleid für ein Volk// ein Morgen- und ein Nachtgewand aus Nebel und Lavagüte//
Ach,
der Schlaf kommt mit schweren Schuhen, um sich ebenfalls zu ersäufen// Es gibt kein Halten und keine Regeln// alle Dinge sind klitzekleine Würmchen// Wie können sie nur so gefräßig sein?
Antworten haben wir schon oft gesucht// wie töricht, diese Seefahrer auf ihren Segelschiffen// Sie kämpfen mit Riesenweibern und Penissen/ voller Meerschaum// Wer hat die Kinder das Sprechen gelehrt?
Die lichte Maid hatte eine Zunge wie eine Messerklinge/ aus Stahl// grau war der Hochzeitsmorgen// leuchtend grau/
wie Moos

II

wie Moos// wandert der Fuß/ durch den Fluss/ und durch die Stubenweiten// feucht sind die Knochen der Besuchergeister// sie gurgeln mit Schwanenfedern und Zwergenschaumergüssen// Küsse im Schnee/ sind/ hierzulande/ voller Leidenschaft// kleine Rösser/ verlieben sich in das Haupthaar ihrer Reiter/ zupfen ihnen drei Haare aus// stecken sie sich in den Schweif und in die Mähne// sie tölten unter der Erde/ damit niemand tot umfällt, der ihre Schönheit sieht// Die Unterirdischen sind das gewöhnt// Die Oberirdischen sind Gewürm// Herren, die das Pfarr- oder Priester- oder Bischofsamt ausüben// auf dem Prost-ta-taa-Hügel// hei ho// wir sind vergnügt und froh!
Die Zügel fest/ die Leinen lose// Stakkato unserer baren Sohlen/ hallt in der Bucht// ich weiß nicht wo// Ein Schiff segelt ebenfalls unter Wasser/ unterm Moos/ entlang// hernieder fährt der Schneeblitz eines gewöhnlichen Landnahmehuhns/ und tötet alle hierzulande und andernorts// …// Ich habe Heimweh/ heute/ die Vogelstimmen sind mein ewiger Trost// und das Moos/ hat meinen Rücken verschluckt// Meine Wirbelsäule ist in Tran eingelegt// Ich versuche/ das Wort „Haifisch“ auszusprechen// Für die Dauer, die Länge dieses Büchleins/ blüht all der Unsinn/ des automatischen Schreibens/ in der Atom-Dichter-Hütte/ 
am Stiflisdal-See//
Ich bin es! Ich bin’s! die nicht mehr weiter/ weiß wie es weiter gehen kann// so soll ich lernen/ mit nackten, losen Schultern Lachse zu fangen// Hermelinlaxe// Rattenlaxe// Fuchslaxe// Laxnesslaxe// Vor dem ersten Sonnenstrahl/ also wenn die Sonne mit dem Mond/ mal eben/ hinterm Berg ist/ um/ zum// Betrinken reicht allemal die Zeit// und hast Du gewusst, das die Schneehuhnpfiffe etwas zu bedeuten haben?
In Island/ weiß keiner jemals/ warum// außer, dass es Suppe gibt/ mit Vulkantomaten// Diese Befreiung des Wortsalats/ ist eine aufrichtige Befreiung/ der Zünglein in der Grube// Wandersleut, die niemals lustig sind/ und Krämpfe/ in den Fingern haben/ weswegen sie nicht schreiben// Sie entfernen sich// Die Wege leeren sich/ wie der Kelch voll roten Weins// Ich möchte ein Schwan sein, eine Schwänin möchte ich sein!
Mein Hals ein Strick, eine Angel- oder Richtschnur// Worte!
Bis zum Morgen //

´


Juni 2015



Hochzeitstag





Pflanze 



Der Himmel ist vollständig weiß. Wenn ich die Fenster öffne, kommt weiße Luft herein, und der Schlaf kommt.

Alles ist anders, augenblicklich bin ich an einem anderen Ort.

Ich rede, spreche, denke, schreibe, was ich will und wie ich will.

Diese Fähigkeit ist vorgeburtlich, frühkindlich, dann aber musste sie sich durchs Leben kämpfen, einwachsen in das Leben wie in ein Haus. Nun endlich kommt sie über das Dach herüber, die Ranke. Sie hat das Haus durchwachsen, marode gemacht, zerstört. Die Pflanze hat Ableger um Ableger gegründet, Blätter und Blüten gebildet. Einige Teile sind eingegangen, aber insgesamt ist die Rankpflanze unverwüstlich geworden. Ihre Wurzeln reichen bis weit durch die Ozeane unter dem Haus, durchwachsen die glühende Magma im Zentrum des Erdballs und kommen wie die tausend Arme eines riesigen Tintenfisches bei den Sternen und Planeten heraus, die sie umschlingen und halten und mit ihnen tanzen. 



Mein Leben, ich



Mein Leben ist so gut geworden wie es besser nicht sein kann. Brillant!

Ich habe ein Theater und bin in allen Ländern der Erde unterwegs und zuhause. Ich bin eine große Künstlerin, die mit anderen großen Künstlern große Werke schafft, aber auch die Einsamkeit kennt. Alle meine Talente wachsen und blühen wie meine Rankpflanze; in der Tat entstammen sie alle dieser Pflanze und werden aus ihrem starken, unverwüstlichen Wurzelwerk gebildet und genährt.

Gewalt, Angst und Schmerz habe ich in meinen Werken verarbeitet. Hochsensibel und tieffühlend zugleich habe ich sie in die Sphären der Kunst transformiert. Meine Kunst ist eine Sprache, die rein ist und klar, geistig, spirituell und erdig. Die Natur Islands, eisklare Luft und heiße Naturgewalten sind darin zu erkennen. Von unbarmherziger Schönheit ist meine Kunst, alle meine Kinder leben darin.

Alles Schlechte ist aus meinem Leben verschwunden. Ich nehme die Kenntnis, die Erfahrung, das Wissen mit in den Wald und auf den Berg. Ugla, die isländische Eule, wohnt dort. Ich wandere in der Nacht und durch den Tag und habe sogar meine Traurigkeit vergessen. 

Wie konnte das Leben nur so gut werden?



Wir



Ich stecke meinen Kopf und meine Hände in die Rankpflanze und suche den Körper meines Mannes. Auch sein Leben ist so gut geworden, wie es besser nicht geht.

Er macht exakt, was er will und was ihm liegt. Er arbeitet für sich, für uns und hilft anderen. Er ist mit allem sehr zufrieden. 

So suche ich ihn.

An meiner Brust hängt unser schwarzer Kater. Trotz seines Alters, das man an den ergrauten Pfoten und den fehlenden Stellen am Fell ablesen kann, hat er Baby-Sehnsucht und Katzenmama-Heimweh.

Ich raune unbestimmt Wortlaute, deren Herkunft nicht erkennbar ist, die nicht einer Sprache zugeordnet werden können, ich raune und raune und schnalze mit meiner Zunge, das Hufgeklapper meines Ponys imitierend. Es erinnert an die rhythmischen Bewegungen des Unterleibs, die durch das Sitzen auf dem Ponyrücken entstehen, wenn es mich durch den Wald trägt und ich von der Hüfte aufwärts eine Feder bin. 

Ich raune und schnalze und taste nach meinem Ehemann. Aus meinen Fingern quellen weiße und blaue Blüten; sie fallen wie ein weicher Watteregen hinter den starken Ranken der Pflanze herab.

Ich vergesse, wie berühmt ich geworden bin und wie viele Engagements, Aufführungen, Stipendien und Reisen gerade dringend warten - ach ja, der Chauffeur wartet auch schon mit meinen Kindern in der Limousine; wir wollten doch zusammen eine Spritztour machen irgendwohin. 

Doch da habe ich gerade das Gesicht meines Mannes ertastet. Er hat Ähnlichkeit mit einem Fisch oder einer Waldkatze oder dem Raum zwischen den beiden. Ich merke, dass auch er sucht und tastet und leise Geräusche macht (die Fischgeräusche sind fast unhörbar). Auch er streckt die Hände aus und bewegt seine Finger wie der Kater seine Tatzen, wenn er Sehnsucht hat und weich ist wie Fell und Leder und die Zähne und Krallen sanft schimmernde Juwelen sind, die Augen leise leuchtende Steine aus dem Jenseits. 

Wir finden uns. 

Mein Mann fasst dem Kater in die Augen, so dass das samtene Licht ausläuft. Der Kater wird ein welkes Blatt an meinem Busen. Mein Mann hat weiche Fingerkuppen, doch nun trägt er die scharfen Krallen des Katers. Unser Baby ist tot!

Vor Kummer werden wir klein wie Blüten und schaukeln im Geäst unserer Pflanze. Wir essen die Blüten, die nun so groß sind wie wir selbst. Manche sind bitter, andere süß. Sie sehen aus wie Plankton unter dem Mikroskop oder wie Urwald-Monster.

Der Chauffeur ist mit der Limousine und den Kindern davon gebraust. (Er war einmal mein Liebhaber, aber das tut nichts zur Sache). Die Engagements und Aufträge, Verträge und Reisestipendien rasseln wie Blechbüchsen an einer langen Schnur hinter der Limousine her.

Just split up! Hurra!

Und wir, mein Mann und ich, sitzen als winzige Kinder in der Schaukel unserer Rankpflanze und warten darauf, heran zu wachsen. 

Es ist unser Hochzeitstag, und die Reise beginnt.

Ich küsse meinen Mann mit den Zähnen des Katers. Blut läuft von seinen Lippen herab. Da beginnen wir uns gegenseitig die Krallen und die Zähne abzuschleifen. Wir verwenden dazu die Rinde der Rankpflanze. Dann waschen wir uns mit dem Saft der gekauten Blüten aus unseren Mündern.

Wir haben keine Zeit mehr für den Erfolg, es gibt Besseres zu tun, als sich mit der Limousine herumkutschieren zu lassen. Oder Hochzeitstag zu feiern.

Aber sollen doch die Gäste hierher kommen und auch das Theaterpublikum! Wir können doch alle gemeinsam feiern und Theater spielen, Musik machen und Torte essen. Oder Brot backen. Oder alles zusammen und jeder, jede, was er oder sie will.

Das wichtigste aber ist, dass wir heute Frieden finden.



Da fällt das welke Blatt von meinem Busen, und eine Träne kullert hinterher.





Epilog


So ist es

Alle lachen, alle Menschen und Tiere im Garten, im Wald, auf den Bergen, auf dem Dach des maroden, zerstörten Hauses. Alle Vögel und Schmetterlinge, Spinnen und Insekten, die in der Rankpflanze leben oder um sie herum schwirren. 
Freude ist in der Luft und weißblaues Licht in allen Räumen außen und innen.

Wir feiern unseren Hochzeitstag und küssen uns mit weichen, starken Lippen.


Juni 2015




Das Mittagessen

Bei der Ankunft in der fremden Stadt vermischte sich Annas kindliche Neugier mit ihrer Reisemüdigkeit. Ein kleiner Wirbel entstand in ihr, gleich einem Blätterwirbel im Herbst, der von einem warmen Sommerwind zerstreut wird. Hinter ihren Augen wurden schlafende Bilder geweckt. Sie sah schwarze Bäume mit ineinander verschlungenen Ästen, die sich vor verfallenen Fassaden mit Fenstern aus dickem, alten Glas reckten.
Der Klang von Kirchturmglocken schwebte über die roten Dächer. Ein Zug ratterte durch Annas Erinnerung. Das schadhafte Kopfsteinpflaster war noch nass vom letzten Regenguss, und es würde wieder regnen. Dunkle Wolken kamen vom Meer. Anna sog die salzige, regenschwere Luft ein. Ihr Blick verlor sich in dem Meer verschachtelter Dächer unter ihr. Die neuen Eindrücke verbanden sich mit Erinnerungen an Orte, an denen sie vor langer Zeit gewesen war.
Man sollte sich den Zustand des Ankommens wie seine Jungfräulichkeit bewahren und es genießen, wenn er vergeht, dachte Anna romantisch.
Ein Windstoß klatschte dicke Regentropfen auf das Pflaster. Anna machte einen Hüpfer, um zur anderen Straßenseite unter einen Dachvorsprung zu gelangen. Dabei stolperte sie. Ihre Reisetasche fiel zu Boden in eine Pfütze, und zu allem Überdruss brach auch noch die Hacke eines Schuhs. „So ein Pech!“, rief sie und hob ihre Tasche auf, die eine hässliche, schmutzige Unterseite bekommen hatte und mit Dreckspritzern bedeckt war. War dies ein schlechtes oder ein gutes Omen? Fluchend hob Anna die abgebrochene Hacke von der Straße auf. Sie hatte keine Ersatzschuhe dabei. Dann untersuchte sie ihren Fuß, tastete das Gelenk ab und trat ein paar Mal vorsichtig auf. Gott sei Dank, sie hatte keine Schmerzen, das war die Hauptsache. Anna richtete sich wieder auf und wich erschrocken zurück. Vor ihr stand ein Mann. Er war groß, trug einen Hut und einen Bart, was in diesem Land nicht unüblich war. Er lächelte freundlich. „Alles in Ordnung?“, fragte er in ihrer Landessprache. Anna war verwirrt. Instinktiv griff sie nach ihrer Tasche, die sie am Straßenrand abgestellt hatte. Sie hatte Angst. „Taxi!“, rief sie und sah die Straße hinunter. „Hier kommen keine Taxis vorbei“, sagte der Mann. „Diese Gegend ist viel zu verlassen, und wenn ich es sagen darf, auch zu gefährlich. Aber wenn Sie wollen, begleite ich Sie zu Ihrer Pension. Natürlich nur, wenn Sie wollen.“
Annas Augen weiteten sich. Verlegen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und fragte: „Wer sind Sie?“ Der Mann lachte. 
„Nein danke“, sagte sie dann eilig, „das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich brauche keine Hilfe.“Der Mann hob seinen Hut und trat höflich einen Schritt zurück. Hastig verstaute Anna die abgebrochene Hacke in ihrer Reisetasche und eilte davon. Wegen der fehlenden Hacke humpelte sie leicht. Um sicher zu gehen, dass der Mann ihr nicht folgte, drehte sie sich noch einmal um: „Vielen Dank nochmals. Auf Wiedersehen.“ 
„Darf ich Sie auf etwas aufmerksam machen?“
„Ja?“, Anna lächelte verkrampft. 
„Ihre Pension liegt in der anderen Richtung“. 
Anna umklammerte ihre Tasche. „Welche Pension? Was meinen Sie?“, rief sie und versuchte, ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken. Der Mann nannte den Namen ihrer Pension, in der sie ein Zimmer reserviert hatte. Dann nannte er ihren Namen: „Anna“. Das war doch richtig? Anna ließ die Tasche fallen, hob sie wieder auf. Nun ging sie auf den Fremden zu, bereit, es mit ihm aufzunehmen. 
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ 
Sie stand dicht vor ihm. Vor langer Zeit war sie gesucht worden. Aber hier konnte ihr nichts passieren, da war sie sicher. Zu lange war sie schon auf Reisen. Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte der Mann: „Nein, ich habe nichts damit zu tun. Sie sind hier sicher, ich meine in diesem Land, und es ist lange her. Aber glauben Sie mir, diese Gegend ist nicht sicher. Ich biete Ihnen meine Hilfe an. Es bleibt freiwillig. Ich werde nichts tun, was Sie nicht wollen. Außerdem... “, und er grinste fast, „sind Sie ja bewaffnet. Pardon... “Anna schnappte nach Luft. Sie war kreidebleich, bewahrte aber die Fassung. Sie studierte das Gesicht des Mannes. Konnte es sein, dass sie sich schon einmal begegnet waren? „Kennen wir uns?“, fragte sie. 
Es regnete. Der Wind schleuderte ihnen feine Spritzer ins Gesicht.
Ein Taxi bog um die Ecke, Anna sprang auf die Straße. Das Taxi hielt an. Triumphierend blickte Anna zu dem großen Mann, der unter dem Dachvorsprung stehen blieb. Doch Anna überlegte es sich anders. „Fahren Sie weiter!“, rief sie zum Taxifahrer „und entschuldigen Sie vielmals“.
Das Taxi brauste davon. Entschlossen zog Anna Schuhe und Strümpfe aus und packte sie in ihre Reisetasche. Sie hatte keine Lust, sich lächerlich zu machen mit einem halben Schuh. Der Mann lächelte nicht mehr, er fixierte sie. Anna begegnete seinem Blick. „Wenn sie mich nun begleiten wollen“, sagte sie, „oder ist Ihnen der Regen unangenehm?“
Der Mann machte eine Geste: „Gehen wir!“
Anna ging an seiner Seite. Sie genoss es, ihre nackten Füße auf dem Pflasterstein zu spüren. „Leben sie schon lange hier?“, fragte sie, und als sie keine Antwort bekam, fuhr sie fort: „Verzeihen Sie, falls ich Sie mit einer Erinnerungslücke beleidigen sollte. Sie sind wirklich sehr sympathisch. Ich erlaube mir einfach, mich mit Ihnen zu unterhalten, als wäre nichts.“
Sie lachte, er lächelte. „Ich habe schon so viel auf Reisen erlebt, aber was soll ich Ihnen erzählen... “
Sie wusste, dass es albern war, ihm irgendetwas entlocken zu wollen. Doch sie spürte, dass sie mit ihm gehen musste, um die Sache zu einem Ende zu bringen. Was auch immer geschehen würde, notfalls würde sie von ihrer Waffe Gebrauch machen, notfalls gegen sich selbst! Sie war schon lange auf ein Ende gefasst. Sie wollte alles für ein gutes, würdiges Ende tun. Anna, das musste der Mann ja wissen, konnte verdammt mutig sein, todesmutig geradezu. Sie konnte ihre Kräfte zusammennehmen, und sie besaß einen ausgeprägten Instinkt, der ihre Ängstlichkeit in eine besondere Kraft verwandeln konnte. In diesem Moment war ihr Instinkt hellwach.
„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“, fragte der Mann. 
„Ja?“Annas Stirn kräuselte sich. 
„Ich würde Sie gerne zum Mittagessen einladen“. 
„Und wo?“
„Hier“, er deutete auf einen dunklen Hauseingang. Anna lachte auf, und um Zeit zu gewinnen, sagte sie: „Ich fände es nett, wenn Sie mir vorher Ihren Namen sagten. Sie kennen meinen Namen, und ich leugne es nicht, ich bin Anna und offensichtlich die Anna, von der Sie weiß der Teufel was wissen... Wenn wir zusammen Mittag essen, dann sollten wir uns doch ein wenig flüssiger unterhalten als bisher“. Sie schaute sie zu ihm auf. Ihre dunklen Augen funkelten. Es regnete heftig. Sie waren völlig durchnässt.
Der Mann beugte sich zu Anna herab und küsste sie. Dann hob er sie mitsamt der Reisetasche auf seine Arme und trug sie durch den dunklen Hauseingang. Anna leistete keinen Widerstand. Sie gingen durch dunkle Gänge und offene Türen. Das Ende, das Ende, dachte Anna, und ihr Herz klopfte wild. Dann schoss es durch ihren Kopf: Die Waffe!
Sie waren in einem großen, möblierten Zimmer angelangt, in dessen Mitte ein gedeckter Tisch stand. Der Mann setzte Anna vor einer Tür ab, die von diesem Zimmer abging. Er öffnete die Tür und sagte höflich: „Bitte!“
Sie stand vor einem Badezimmer. „Ich werde Dich nicht stören“, versicherte er. Er hatte zum Du gewechselt, doch immer noch nicht seinen Namen genannt. Anna trat ins Badezimmer und schloss die Tür.
Die Badewanne war mit Wasser gefüllt, das gut, aber sehr intensiv roch. Obwohl Anna sich beobachtet fühlte, zog sie sich aus. Nun war sie nackt und wehrlos. Sie beschloss zu vertrauen. Am liebsten wollte sie ihre Tasche loswerden. Kurz durchfuhr sie der Gedanke, dass am Grunde der Badewanne eine Waffe auf sie warten könnte... Ein Messer, eine Schlange, Blut, Gift... "Ruhe!", befahl sich Anna. Ihr nackter Körper war umschlossen von der mit Essenzen angereicherten Luft. Bevor sie die Oberfläche des Badewassers mit ihren Zehen durchstieß, sagte sie zu sich selbst: "Was auch immer geschehen wird, ich vertraue mich diesem dunklen Pfad an, auf den der Mann mich getragen hat. Das ist mein Entschluss!" Anna tauchte ihren Fuß in das Badewasser, bis er am Grund der Badewanne aufsetzte. 
"Ein tiefer Bergsee mit verzaubertem Wasser", flüsterte sie. Vielleicht werde ich ohnmächtig und er... , dachte sie, als sie in das Bad stieg. Ihr Gesicht und ihre Haare waren noch regennass, sie schloss die Augen. Sie war ein Wesen, das vom Wasser besessen wurde. Sie war eine Schlange, glatt und kühl und voller dunklem Blut. In ihren Träumen hatte sie dunkelgrünes, fast schwarzes Blut gesehen, das die Orte ihrer Reise miteinander verband. Sie war eine weiße Hirschkuh mit großen schwarzen Augen und einem Geweih, das wie ein Baum mit Wintergeäst aus dem See stand, in dem sie ertrank. Die Oberfläche gefror zu Fensterglas. Sie war eine Frau, ein Mädchen, ein Kind. Silberne Federn wuchsen aus ihrer seidigen Haut und machten sie zu einer Vogelfrau, die das warme Wasser verlassen musste, um in den eisigen Lüften zu wohnen. Anna legte den Kopf zurück und öffnete die Augen, die nun riesige Kirschen waren. Die letzte Angst flog aus ihren Pupillen wie aus Brunnenöffnungen. Die Angst war ein schwarzer Vogel, der rief: "Man vertraut keinem fremden Mann, an dem der Geruch von Schicksal wie der Schweiß alter Häuser klebt!"
Anna atmete tief ein, ihr Leib dehnte sich im warmen Wasser. Sie merkte, wie die Essenzen sie belebten und beruhigten. 
Das Ende, dachte Anna, das Ende, ich bin bereit!
Sie tauchte ihren Kopf unter Wasser und übergab die letzten Regentropfen dem duftschwangeren Badewasser. "Jedes Bad ist eine Reinigung, ein Abschied vom alten Zustand, der Übergang vom Ankommen ins Dasein, eine Wiedergeburt", sagte sie vor sich hin. Dann stieg sie aus dem Bad, trocknete sich ab und wollte sich ankleiden. In ihrer Reisetasche stand das Regenwasser, und alle Kleidungsstücke waren voller Schlamm. Also doch ein Trick!, dachte Anna. Was konnte sie schon ausrichten gegen Zauberei... Da fiel ihr Blick auf einen weißen Hermelinmantel an einem Bügel. Daneben hing ein dunkelgrünes Seidenkleid, und für ihre Füße standen weiche Pantoffeln bereit. Sie kleidete sich an. Wie eine kühle Haut legte sich das Seidenkleid um ihren warmen Körper.
Es war tiefe Nacht, als sich Anna und der Mann in dem Zimmer trafen und das Mittagessen begann. Sie saßen sich gegenüber, und ganz leicht kam sein Name über ihre Lippen. Er hatte sich rasiert und ebenfalls gebadet. Er trug einen Wollanzug, der ihm gut stand. Meine Tasche! Die Waffe!, durchfuhr es sie noch einmal. Anna hatte zwei Bedürfnisse gleichzeitig: Zu reden und zu schweigen. „Ich weiß, ich habe schlimme Dinge getan. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nie etwas bereut“, begann sie die Unterhaltung. „Jedem, den ich umgelegt habe, dem habe ich ein grausames Schicksal erspart!“
Und sie fügte hinzu: „Ich meine das nicht als Rechtfertigung. Ich stehe dazu. Ich bin eine Herzenskillerin, so wie Du ein Herzenskiller bist“.
Er lächelte geschmeichelt und reichte ihr die Terrine mit den Tintenfischen, die in ihrer eigenen Tinte schwammen. Anna nahm reichlich Petersilie und Zitrone dazu. Sie schlürften hemmungslos.
Das Essen war in Muscheln unterschiedlichster Größen angerichtet, Kerzen brannten, und von irgendwoher kam noch ein anderes Licht, so eines wie Tageslicht, das sich gegen große, schwere Regenwolken durchsetzen muss. „Meine Tasche... “, sagte Anna dann doch, „ich wäre sie gerne losgeworden.“
„Hmm“, machte der Mann und gab zum ersten Mal selber etwas preis: „Ich habe auch so eine Tasche.“
Sie stießen an. Die schön geschliffenen Kristallgläser klangen glockenhell. Anna erfreute sich an dem Klang, der über die Möbel davonschwebte. „Junger Wein“, sagte der Mann und sah ihr geradezu verführerisch in die Augen. „Warum hast Du mich vorher geküsst?“, fragte sie, denn sie dachte, dass er sie vielleicht einschüchtern wollte. „Oh, der unwiderstehliche Kirschengeschmack, den Du versprochen hast“, antwortete er auf einmal so frei, und es war nichts Anzügliches daran. Anna stürzte das Glas herunter und nahm ein Stück Brot zur Suppe. „Was ist mit den Briefen?“, fragte sie dann. „Die Briefe in unseren Reisetaschen... “
Es war jetzt heraus, dass sie sich von irgendwoher kannten, doch sie konnte ihn keinem Ort und keiner Zeit zuordnen. Seine Stimme war irgendwie in diesem herbstlichen Blätterrascheln und in diesem warmen Sommerwind gewesen. „Überraschung!“, rief der Mann und öffnete eine große Muschel, die in der Mitte des Tisches stand. Anna machte große Augen.
Blätterteigpasteten aus unzähligen Schichten papierdünnen Teigs füllten das Innere der Muschel. Heiter begoss er es mit etwas Hochprozentigem aus einer Karaffe und zündete es an. „Flambierte Briefe!“, rief Anna und klatschte in die Hände. Sie aßen. Die Pasteten waren mit feinen Pilzen gefüllt, Morcheln, Muscheln und allerlei Erlesenem, das Anna nicht kannte. „Ach“, seufzte sie, als sie zu Dessert, Kaffee und Portwein kamen, „ich dachte, dies sei das Ende, das letzte Mahl“, und sie steckte sich lachend eine Kirsche in den Mund. Er öffnete den Mund und bedeutete ihr, mit einer Kirsche in seine Mundöffnung zu zielen. Anna zielte und traf. „Ich werde Dich auch einladen“, versprach sie. Plötzlich wurden sie ernst, denn eine Windböe war hereingekommen und hatte die Kerzen gelöscht.
Da es nun dunkel war, schliefen sie beisammen. Als Anna vom Licht der Dämmerung erwachte, wollte sie davoneilen. Doch sein Atem hielt sie gefangen. Er kam aus einer unheimlichen Tiefe und durchströmte seinen Körper mit Wärme. Nur schwer konnte sie sich lösen. Schließlich stand sie auf und ging zum Tisch. Sie ließ ihren Blick über die Essensreste schweifen. „Verzeihung“, flüsterte sie, „Verzeihung!“ Ihre Finger hasteten durch die Reste der flambierten Teigblätter. Sie fand ein kleines Stück mit verkohlten Rändern, auf dem noch etwas zu entziffern war. Aufgeregt nahm sie es an sich und sah zu ihm herüber, ob er noch schlief. Er regte sich nicht. Anna suchte weiter in den Essensresten, bis sie alles Lesbare gefunden hatte. Dann überlegte sie. Ihre Tasche stand noch im Bad. Sie schaute in das Dämmerlicht, ihre Augen waren dunkelgrün wie das Seidenkleid und ihr schwarzes Haar lag um ihren Körper wie ein Gefieder. „Du bist schön, Anna“, hörte sie seine Stimme. Sie durchbrach die Stille wie eine krachende Eisdecke. Anna wandte sich um.
Sie stand vor einem dunklen Hauseingang. Sie war barfuß und durchnässt. In einer Hand hielt sie ihre Schuhe, in der anderen Hand die abgebrochene Hacke. Gegen Mittag erreichte sie die Pension, in der sie ein Zimmer reserviert hatte. Man habe sie ausgeraubt, ihre Reisetasche sei fort, sie sei um ihr Leben gerannt. Dabei habe sie auch noch die Hacke eines Schuhs verloren. Zum Glück hatten die Diebe zu diesem Zeitpunkt schon die Verfolgung aufgegeben. Sie hatten ja ihre Reisetasche.

Niemand zweifelte an Annas Identität, obwohl sie keine Papiere hatte.
Zum Mittagessen gab es Vogeleier in einem Seealgennest, eine Spezialität des Hauses. Der Kellner bemühte sich um Anna. Sie war so eine schöne Frau mit traurigen, einsamen Augen. „Wahrscheinlich ist Ihnen ein grausames Schicksal erspart geblieben“, sagte er, „die Diebe in dieser Stadt sind nicht zimperlich, richtige Verbrecher... Doch hier sind Sie in Sicherheit!“
„Danke“, Anna lächelte. Zudem sei heute ein Schicksalstag, meinte der Kellner ganz erregt. In den frühen Morgenstunden sei ein Haus im ältesten Teil dieser Stadt abgebrannt. Der starke Regen habe nicht das Geringste gegen die Flammen ausrichten können. Äußerst seltsam war, dass die Flammen kerzengerade zum Himmel aufgestiegen seien, das Feuer sei nicht auf ein benachbartes Haus übergesprungen. Außerdem, und das könne jeder
bezeugen, habe der Wind den schwarzen Rauch über dem Haus zu ganz eigenartigen Gebilden zusammengetrieben. Mit eigenen Augen habe er einen großen schwarzen Vogel gesehen, Geweihe, Schlangen, Bäume... ein wahrer Spuk!“
Anna lächelte. Aus dem Fenster des Speisesaals konnte sie über das Meer blicken, über dessen wilde Oberfläche schwarze Wolken auf den Horizont zujagten. 


Lissabon, 2007


Bumerang und Kuckucksuhr
oder
Begegnung im Advent



Auftauchen am Neumarkt. Großstadt Köln. Glitzern und Blinken überirdisch. Auftauchen aus der U-Bahn. Aufsteigen aus dem Menschenstrom und den Gesprächsfetzen, Wortcollagen und Sprachsträngen.
Baggerfahrer ohne Papiere, Bauarbeiter, Schichtarbeiter, Studierende, Studierte, Promovierte aus Venezuela, China, oder von sonst wo. Köln: die Welt im Schüttelglas.
Auftauchen aus der U-Bahn. Draußen klebt ein Mann am Geländer, oben an der Treppe. Der Kopf ist zwischen die Arme gesackt, er kann sich kaum halten, so sieht es aus.
Weitergehen oder mal antippen, was los ist; ob vielleicht ein Krankenwagen geholt werden muss.
Kopfkino. Bilder, Szenen rauschen in meinem Kopf, vorbei an den inneren Augen.
Hier Halt, dort Weitergehen. Stop and go.
„Besser einmal zu viel nachgefragt als einmal zu viel vorbeigegangen“, denke ich. 
Ich lebe auf dem Land. Komme gerade aus der Stille einer friedlichen Umgebung, eines Idylls. Die Welt in relativer Ordnung, dort in dieser kleinen Einheit einiger Häuser, wo Menschen zusammenleben. Hühnergackern und Vogelzwitschern, das Miauen hungriger Katzen, das sich schnell in zufriedenes Schnurren verwandeln lässt; das Trippeln von Mäusen in der Wand, das Rauschen von Baumkronen im Wind und des kleinen Bachs inmitten der Ruhe. Die Stille der Nacht. Das Schweigen der Sterne, und am Morgen kräht der Hahn. 
Tipp, tipp. „Alles in Ordnung?“
Der Mann reagiert nicht. Ich tippe ihm nochmals auf die Schulter, berühre ihn leicht an seinem Oberarm.
Tipp, tipp. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
Er hebt langsam den Kopf, legt ihn schief in meine Richtung, sieht mich an, blinzelt aus schmalen Augenschlitzen.
Ich wiederhole die Frage: „Ist alles in Ordnung? Sind Sie ok?“
„Geht so“, antwortet er langsam.
Der Kopf weiß nicht, ob er wieder herunter sinken soll, der Schwerkraft folgend, oder ob er die Kraftanstrengung auf sich nehmen soll, sich aufzurichten und zu sehen, wer ihm diese wundersame Frage stellt.
Der Kopf gehorcht der Neugier, angeschubst von einer Prise Hoffnung.
Hoffnung! Lebenserhaltend, über alle Gefühle hinausreichend. Verbrüdert, verschwistert mit der Neugier.
„Ich weiß nicht“, sagt er. „Nicht so richtig“.
Ein kleines Blitzen in seinen Augen, ein Funke. 
Eines ist gleich klar. Der Mann ist nicht im Vollsuff, er lallt nicht einmal. Er ist schwach, aber gut beieinander. Ein Krankenwagen muss nicht geholt werden.
Irgendetwas hält mich zurück, nun zu sagen: „Na gut, dann einen schönen Abend noch“, und weiterzugehen. Es ist nicht alles in Ordnung hier. Der Moment entscheidet; ich bleibe eine winzige Zeiteinheit länger noch stehen.
„Kalt ist es“, sagt der Mann in fast erzählendem Ton. Jetzt kommt die Geschichte…
„Ja“, sage ich. 
Dabei geht es mit der Kälte, wir haben ein paar Grad über Null. Aber gut, ich trage eine Winterjacke, eine Mütze und einen Schal.
Der junge Mann trägt Jeans und einen Pullover mit V-Ausschnitt. Die Arme sind hochgekrempelt, so dass ich seine tätowierten Unterarme sehe. Ich stehe immer noch neben ihm. Habe wohl entschieden mir anzuhören, was jetzt kommt. 
„Ich bin obdachlos“.
Klar. Sonst würde er wahrscheinlich nicht hier so am Geländer hängen, mit der halbleeren (oder halbvollen) Bierflasche zu seinen Füßen.
Ich schaue in sein Gesicht und denke: „obdachlos“.
Das Wort ist eine Schleife geflogen und kommt nun zurück zu mir wie ein Bumerang. 
Peng, stößt es an meinen Kopf und reagiert darin mit dem vorigen Satz: „Es ist kalt“.
Ausgelöst; ding, dong, klong: mein Herz springt auf, als wäre es eine Kuckucksuhr.
Die Stunde schlägt, der Kuckuck springt heraus und ruft:
Kuckuck, kuckuck, kuckuck“.
Mein Verstand schaltet sich ein und spricht in die Zwischenräume der Kuckucksrufe:
„Lange kann er noch nicht obdachlos sein, wenn er hier schon bei Plusgraden abschmiert“,
und die Stimme der Beobachtung souffliert im Hintergrund: „Er sieht einfach zu gut aus, um schon lange auf der Straße zu sein“.
Er muss ganz frisch hinausgefallen sein aus der Gesellschaft, die ihn nicht mehr haben wollte, oder in der er nicht mehr sein wollte als Arbeiter, Arbeitsloser, Versager, Krimineller, Wer-oder-was-auch-immer.
Geschichte, Biografie, Schicksal, Kindheit - Szenen rauschen in meinem Kopf; Kopfkino im Zeitraffer.
Ich sage nichts. Ich gehe nicht weiter. 
Jetzt zeigt er mir sein Gesicht. Eine abgeknickte Feldblume versucht, sich aufzurichten. Sein Gesicht ist rund, die Wangen sind voll, nur von der Kälte gerötet. Ein junger Mann in seinen besten Jahren. 
In mein offenes Herz strömen Gefühle ein. Mitgefühl bindet mich an den jungen Mann, an dessen Seite ich stehe. Ich wende ihm meine Augen und Ohren zu. Gleichzeitig köchelt sich ein Süppchen aus Wut und Mitleid in meinen Herzkammern zusammen. Brodelt und zischt leise im Hintergrund.
Die Geschichte: Die KVB (Kölner Verkehrsbetriebe) lässt keinen Obdachlosen, keinen Penner ohne Fahrschein in die U-Bahn, wo er sich aufwärmen könnte. Sie haben ihn so oft rausgeworfen, dass er es jetzt nicht mehr versucht und dort oben an der Treppe, die zu den U-Bahn-Stationen hinabführt, klebengeblieben ist. Erschöpft, die Beine Watte, die Bierflasche halbleer (oder noch halbvoll). Vor mir, ein paar Treppenstufen abwärts, steht ein Mitarbeiter der KVB, ich schaue auf einen Rücken in blauer Uniform.
Bei Mc Donalds und überall anders wurde er auch rausgeschmissen, weil er kein Geld hat, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Hat auch nichts im Magen; noch nichts gegessen den ganzen Tag. Hat gebettelt stundenlang, zwanzig Cent zusammenbekommen, mehr nicht. Jetzt hat er aufgegeben. Schicht am Geländer zum U-Bahn-Eingang Neumarkt, Köln.
Wusstest Du nicht, wie hart das Leben auf der Straße ist? Und das noch bei Plusgraden -  der Winter hat doch gerade erst angefangen! Und Du, Du bist jung und kräftig und schwächelst schon jetzt…
Ein Obdachloser bist Du? Du kannst Dir nicht leisten, Memme zu sein, solltest Dich schleunigst daran gewöhnen, nirgends willkommen zu sein, missachtet, verachtet, lästig.
Schau Dir deinesgleichen an: die Jungs und Mädels, die schon seit Jahren auf der Straße leben. Du siehst leider noch viel zu gut aus… Und betteln, naja. Lass Dir doch etwas Effizienteres, Schlaueres, Schnelleres einfallen. Oder willst Du anständig und ehrlich bleiben, „sauber“?
Was auch immer der Grund dafür ist, dass Du hier so am Geländer klebst, das hier ist kein Spiel. Du kannst nicht sagen: Ich mach nicht mehr mit. Da gibt es erst einmal kein Zurück. Nicht so einfach. Keine Freikarte, kein Freibier, kein Pardon. Scheißspiel.
Dabei hast Du es noch gut. Obdachlos in Köln, Deutschland, Europa. Abgesehen davon, dass Du jung und stark bist und hier eigentlich nichts verloren hast auf der Straße, denn Du kannst arbeiten, Geld verdienen statt zu betteln und Dich in die Gesellschaft integrieren - denk doch mal global, an Menschenschicksale in Afrika, Russland, Iran, Irak, Syrien… fast überall auf der Welt ist es schlimmer als hier. Millionen Menschen leiden mehr als Du, und Millionen aus den Millionen haben keine, aber auch gar keine Schuld an ihrem Schicksal. Krieg, Bomben, Hungersnöte…
Hinter dem Ticken der Kuckucksuhr ist dieses Band im Schnelldurchlauf durchgerast. Ein Quietschen und Rauschen mit Micky Maus - Stimme, wieder und wieder abgespult, ausgeleiert. Manchmal bleibt das Band hängen, die Stimme verlangsamt sich, wird dunkel, dumpf, klingt schwach und krank.

Ich bin wieder im Hier und Jetzt, neben dem frischgebackenen Obdachlosen, geschwächt von einer ersten Lektion im Obdachlosensein in Köln am Neumarkt im Advent.
Vor uns der uniformierte KVB-Rücken auf der Treppe, um uns herum zumeist eilige Menschen mit vorweihnachtlichem Blinken und Blitzen; Leuchten in den Augen, an der Kleidung, den Ohrläppchen, den Armgelenken, den Taschen. Lichter, Lichter und Geräusche; die elektrische Ladung einer Großstadt im Weihnachtswahn.
Es sind nun schon Minuten vergangen. 
Ich habe dem Mann zugehört, und wir haben uns angesehen. Er murmelt etwas davon, dass er wohl einen warmen Kakao trinken würde, wenn er irgendwo sitzen könnte, um sich aufzuwärmen. 
Er bettelt nicht. Heute nicht mehr.
Ich sage, ich kann ihm ein paar Euro geben. Frage, ob ihm das hilft. Ohne die Antwort abzuwarten, krame ich meinen Geldbeutel hervor und ziehe einen Fünf-Euro-Schein heraus. Der kleinste Schein in meinem Geldbeutel, aber mehr wert als Münzgeld. Und über zwanzigmal mehr als zwanzig Cent.
Ich stecke den Schein in seine rote Hand, die um das Geländer gespannt ist, sich aber schnell und willig öffnet und dann wieder schließt, damit sie den Schein mit dem Geländer zusammen festhalten kann. Der Fünf-Euro-Schein ragt halb zusammengefaltet aus seiner Hand wie ein schiefes Segel. Das schiefe Segel eines schiefen Bootes auf schiefer See. Ein schiefes Lächeln erscheint auf dem roten Gesicht des Käpt’ns. 
„Kauf Dir was Warmes zum Trinken und wärme Dich auf“, gebe ich den guten Rat. Hinter dem Kuckucksuhrticken, tick tack, rauscht das quietschende Band mit der manchmal zu langsamen, manchmal zu schnellen Stimme:
… Und dann schau, dass Du da wieder rauskommst! Nimm Dein Leben in die Hand! Such Dir Hilfe, nutze Deine Chancen! Hierzulande gibt es wenigstens noch ein soziales Netz. Alles nicht Gold, aber soviel besser als anderswo. Mensch, Du bist jung, hast das Leben noch vor Dir. Noch ist es nicht zu spät, Du kannst es schaffen!
Bandende.
Weihnachtsglitzern um uns herum. Rauschen dringt vom Weihnachtsmarkt zu uns herüber. Kaufrausch-Rauschen. Ein heißer Kakao für einen jungen Obdachlosen wartet in einem warmen Café nicht weit von hier.
„Es gibt ja doch noch Menschen mit Herz“, sagt er. Das schiefe Lächeln wird etwas breiter. Die kälteroten Wangen nun wärmerot. 
Zum Abschied berühre ich seine Schulter und wünsche ihm alles Gute.
„Kuckuck, kuckuck“.

Ich gehe weiter. Drehe mich noch einmal um. Er schaut mir wohl noch lange nach. Wärmt sich am eben vergangenen Moment.
Mensch mit Herz entsteigt der U-Bahn. Frau vom Land trifft jungen Obdachlosen bei Ankunft in der Großstadt. 
Eine Begegnung im Advent.

Ich gehe weiter mit offenem Herzen, und nun schäumen darin Wut und Schmerz. Meine Stimme springt heraus aus meinem Kuckucksuhr-Herzkasten und ruft laut:
 „Scheiß Geld, scheiß Welt, scheiß Fetisch Geld! Verfluchte, kalte, herzlose Welt!“
Ich bin angesteckt von der Verzweiflung des Obdachlosen, ergriffen, verletzt von der Kälte der Menschen, die angewiesen werden, Obdachlose rauszuschmeißen aus der U-Bahn, egal wie kalt es noch werden wird, fernzuhalten von Cafés und öffentlichen Toiletten, auch wenn man riskiert, dass sie verrecken, während das Herz für die Familie, den Freund, die Freundin, das Auto, den Fernseher, das neue Tablet, Spielzeug oder Handy schlägt.
Wo kämen wir hin, wenn wir Menschen uns nicht zu solchem Verhalten anweisen lassen würden, egal wen wir rausschmeißen oder fernhalten sollen? Wenn jeder und jede etwas geben oder tun würde stattdessen, eine Kleinigkeit, und vielleicht nicht immer, nicht jedes Mal, aber immer wieder und alle zusammen?
Ich fluche und flenne.
Fluchend und flennend laufe ich durch die Straßen in Richtung Aachener Weiher, vorbei an Möbelgeschäften, schicken Galerien, Friseursalons und Modegeschäften.
Die Geschäfte glänzen kalt - alles herzlose Verbrecher darin! Die gepflegte Galeristin, der coole Friseur hinter dem Schaufensterglas: Unmenschen!
Der Blick des Ausgestoßenseins klebt wie eine Folie an mir. Ich bin eingeschweißt, erstarrt meine Augen, schockgefroren mein Kuckucksuhr-Herz, gerade als der Vogel heraussprang. Das brodelnde Gemisch läuft schäumend über aus meiner guten Herzensstube.

Im Café Fleur in der Lindenstraße treffe ich meine Freunde. Am Eingang streife ich die Folie herunter, oder fällt sie einfach ab? Es bleiben nur unsichtbare Reste kleben.
„Hallo“, „Hi!“ Umarmungen und Küsschen. Nette Bedienung, nettes Café. Kaffee und Kuchen. Ich habe mich auf das Treffen gefreut. Später, nach einem Capuccino, trinke ich eine heiße Schokolade mit Schlagsahne - auf meinen Freund, den jungen Obdachlosen. Dann erzähle ich doch (obwohl ich weiß, was jetzt kommt, was kann und soll denn schon anderes kommen) von der Begegnung beim Auftauchen aus der U-Bahn am Neumarkt.
Es gibt einen Kältebus, wusstest Du das? 
Nicken. Ja, ich verstehe Dich.
Kopfschütteln. Ja, wo kämen wir hin, wenn…?! Es sind einfach zu viele, auch Du siehst spätestens den dritten oder vierten oder hundertsten Obdachlosen nicht mehr oder gehst vorbei. „Dann rettet auch Eva Engel die Welt nicht mehr“, sagt jemand am Tisch. 
Habe ich behauptet, die Welt zu retten?
Habe ich mich als Engel stilisiert?
Ist es so peinlich, so etwas zu erzählen?
Bin ich gleich ein „Gutmensch“ (was für ein schreckliches Unwort)?
Habe ich provoziert, und wenn ja, warum, durch was?

Kuckuck“, ruft es aus meinem Herzen. Ich denke an das Rauschen des Baches hinter meinem Haus, das Schnurren des Katers, das Schweigen der Sterne.
Und am Morgen kräht der Hahn.


Dezember 2014 


Schnee (c) Eva Wal, VG Bild

Monolog im Schnee


I

Alles ist weiß geworden und bleibt es nun auch. 
In der U-Bahn sehe ich Menschen und Werbung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Menschen sehe. Ich bin mir sicher, dass ich Werbung sehe, aber ich weiß nicht, wofür. Ich verstehe die Werbung nicht und will sie nicht verstehen. Ich schließe die Augen. Ich versuche, mir Musik vorzustellen. 
Ich höre keinen Klang, nur die ineinandergreifenden Geräusche der U-Bahn. Sie verschmelzen zu einem Quietschen in unterschiedlichen Farben: Schienen, Züge, Füße, Türen.
Ich bin kalt. Überall in meinem Körper ist es kalt. Die Wärme, die da sein muss, um mich am Leben zu halten, spüre ich nicht. Dabei fühle ich. Ich habe Fühler, die das Leben ertasten, aber keine Gefühle. Wie fühlt sich das Leben an? Rein, ohne Gefühl?
Vielleicht sind die Gefühle in mir versunken wie die Titanic an den Grund des Eismeers. Die große, stolze Titanic!
Es gibt eine Melodie hinter dem Quietschen von Zügen und Schienen. Aus dieser Melodie pule ich Worte hervor wie aus dem Inneren eines Brötchens. Ich knete den weichen, schon gebackenen Teig und forme kleine Wesen. Die Wesen beginnen zu leben. Ich töte sie; zerbeiße, zerkaue und schlucke sie. Ich töte die Worte. Schreibe sie auf. Töte und erlöse. Immer wieder und wieder, es hört nie auf. Die Worte fliegen fort wie gefiederte Eisprinzessinen; sie fliegen in den Schneehimmel auf Nimmerwiedersehen. Ich weiß nicht, wo sie sind, was sie machen, ob sie irgendwo bleiben. Welchen Schrecken sie verbreiten. Wen oder was sie erlösen.
Draußen wird immer Schnee liegen. Als es noch sehr selten Schnee gab, empfand ich den Schnee als hell, heilig, rein, leise, ruhig, still. In mir gab es eine Art Schneegesang. Es war ein leiser und reiner Gesang, von einer dünnen Stimme gesungen. Der Gesang hatte eine kindliche Melodie. Sie versprach Ewigkeit. Sie lag wie ein Morgennebel in mir und wurde nie laut. 
Der Schnee war etwas Besonderes. Er kam nicht jedes Jahr. Und wenn er kam, ging er wieder. Er schmolz, er verging, er zerfloss. Zur Schneeschmelze schloss ich die Augen, um die unschönen Reste nicht zu sehen. Den weißen Schnee behielt ich in meinem Innersten als reine Sehnsucht zurück. Wie war die Sehnsucht süß!
Doch nun ist der Schnee ewig. Er ist verschmutzt, verunreinigt, als wäre er vergänglich wie das Bellen eines Köters.
Ich habe kein Bedürfnis, jemanden anzusprechen, und ich möchte nicht angesprochen werden. In mir schneit es, die Flocken tanzen durcheinander über meiner inneren Schneelandschaft. Sanft landen sie, als legten sie sich schlafen. Sie sprechen, lispeln Erinnerungen, flüstern Liebesakte, Worte, Worte, durcheinander, ineinander, miteinander.
Ein Akt mit Worten im Schnee. Eine Schneezigarette danach. Das war heißkalt! Etwas ist tot. Etwas lebt.
Ich habe mich abgelöst wie eine Haut vom kalten Körper Wirklichkeit. Eine Schneehaut liegt außerhalb von mir, meine Schneehaut. Sie bleibt dort liegen wie ungewünschte Milchhaut auf Milch. Sie ist aus Milch, aber sie gehört nicht zur Milch. Sie bleibt übrig.
Draußen ist es kalt und wird es kalt bleiben. Die Schneelandschaft in mir ist geschmolzen. Die wirbelnden Flocken über ihr sind mitten im Wirbeln erstarrt und können nicht landen. Sie stehen in der weißen Luft wie Fische in einem Aquarium. Weiße Fische in weißem Wasser. Ich singe meinen Monolog-Gesang im Schnee.

II

Seit der Schnee da ist, ist alles anders geworden. Der Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Alle Fahrzeuge sind stehen geblieben. Nur noch vereinzelte Autos sind auf den Straßen und bringen sich gegenseitig um. Die Menschen liegen im Schnee. Manche sind verschüttet, vergraben, man wird sie nie mehr finden, andere liegen wie Käfer rücklings auf dem Eis. 
Der Schnee ist kalt, die Welt ist weiß.
Ich weiß nicht, warum die Welt soviel schlechter geworden ist. Liegt es am Schnee? Hat der Schnee die Menschen mit einer Art inneren Kälte infiziert? Oder liegt es am Schmutz, der den Schnee verunreinigt hat? Hat dieser Schmutz das Innerste der Menschenseele verdreckt?
Früher lag im Winter eine weiße, unberührte Decke des Friedens über allem. Sie schimmerte in der Nacht, und tagsüber spielte die Sonne ein Spiel mit tausend funkelnden, glitzernden, Diamanten. Was war nur damals anders? Was lag nur unter dieser Decke verborgen?

III

Seit der Schnee nicht mehr geht, haben die Leute aufgehört, mit mir zu reden. Alles ist in Stille gehüllt. Diese Stille ist, wie der Schnee, unrein. Sie ist ein dreckiges Schweigen, ein Ver-schweigen, ein Verbrechen.  


Eva Wal, Dezember 2010



Museumslandschaften
oder: Menschen aus Bäumen

Ich gehe ins Café und setze mich auf die große, den Rhein und das Siebengebirge überblickende Terrasse.
Aron Demetz, so heißt der Künstler, der im Museums-Bahnhof seine Werke zeigt. Vor knapp einer Woche habe ich mir die Ausstellung angesehen.
Ich sitze mit dem Rücken zu einer Gruppe älterer Damen, schaue auf den Drachenfels. Die Damen unterhalten sich in recht aufgeregtem Ton. Es geht ums Kinderhaben und um die Rente. Ein Zug kommt, rauscht durch den Bahnhof hinterm Café, aus Koblenz kommend in Richtung Bonn. Das Geräusch fräst eine Schneise in das Gespräch der Frauen. Schnell ist der Zug weg, sicherlich ein ICE. Nachdem das Zugrauschen verklungen ist, reden die Frauen ruhiger. Der Zug hat ihre Aufregung mitgenommen, denke ich.
Unten am Rhein, direkt unterhalb des Museums, legt die Fähre ab. Es wummert zu uns herauf.
Hinter meinem Rücken geht es um Frauen, Männer, Paare, Geld. Häuser, Renovierung. Geld reinstecken.
Ich bekomme meinen Latte Macchiato und den leckeren Apfeltart, zwanzig Prozent billiger für Mitarbeiter, sogar für die Freien wie mich.
Das Siebengebirge trägt ein warmes Fell. Zärtlichkeit in meinen Augen.
Am Nebentisch hat jemand geerbt.
Ein Schatten fällt auf die Waldlandschaft, den Waldkörper.
Eine Streicheleinheit.
Kähne schwimmen auf dem Rhein, auf und ab, ihr Dröhnen steigt hoch zur Museumsterrasse. Der Rhein, eine Silberader durch das Leben. Der Rhein fließt und rauscht, der Zug fährt und rauscht, und die Straße rauscht auch. Die Bundesstraße oberhalb der Fähre verläuft parallel zum Rhein. Es ist ein anderes Rauschen, das der Autos, zerfasert, abgehackt, unregelmäßiger in den Frequenzen als der dahinfliegende ICE oder die fast singende Mittelrheinbahn, die am Bahnhof Rolandseck, direkt am historischen Museums-Bahnhof hält. Störfrequenzen vor Landschaftsidyll.
Abgehackte Sätze landen auf meinem Blatt Papier. Ich schreibe mit abgehackten Gedanken, mit abgehackter Hand. Bin nicht fröhlich heute. Mein Herz sucht Beruhigung und Besänftigung. Es holpert auf der Straße, ruckelt auf den Bahnschienen, fliegt und taumelt und flattert und fällt... Nach Hause will es; es hat Heimweh.
Heimelig liegt der Waldkörper am Fluss. Der Horizont ist in ihm versunken. Der Wald öffnet sich, einen Spalt breit, für mein Herz. Es schlüpft hinein. Der Waldkörper schließt sich wieder. Mein Herz liegt nun im Wald. Der Wald ist ein Tier. Langsam hebt und senkt sich sein Leib mit seinem Atem.
Es ist noch ein Rest Latte Macchiato im Glas, der Apfeltart ist weg. Ich betrachte das schmiedeeiserne Geländer der Terrasse. Das Grün des Museumsparks schimmert durch die Öffnungen des Abschnitts zu meinen Füßen. Ein Mandala klassizistischer Baukunst; Dornen, Blüten, Eisen, Farn. Mit dem sonnigen Grün dringen auch der Straßenlärm und das Dröhnen und Wummern der Fähre und der Kähne herauf. Neben mir wird bezahlt. Münzen fallen klingelnd auf andere Münzen. Geschirr wird abgeräumt und im Innenraum des Cafés abgestellt. Stimmen. Kellner, Gäste.
Plötzlich höre ich eine Vogelstimme, so deutlich und nah, als wäre sie an meinem Ohr. Große Bäume stehen vereinzelt auf dem Museumsareal. Ich sehe Kastanienkronen, Tannenspitzen, ein Mammuthaupt, Lindenköpfe. Dort musizieren die Vögel. Sie gehören zu meinem Herzen, das sich im Leib des Waldtieres ausruht.
Ein Martinshorn kommt, es verprügelt die Vogelstimmen im Vorbeifahren; ist schon weg.
Die Unterhaltung der Damen geht auch nach dem Bezahlen noch weiter. Zwischen den Vogelstimmen und dem allgemeinen Lärm verfangen sich die Worte: Arzt, Dioptrin, Screening.
Die Silberader des Rheins färbt sich vom Rand her dunkelgrün. Der Fluss wirkt so körperlicher, leibhaftiger, er wird zur Schlange. Die Schlange liegt vor dem Waldtier, einem Löwen vielleicht. Ein Bild aus dem Paradies, ein Mosaik im Atrium einer römischen Villa, umgeben von schmiedeeisernen Mandalas preußischer Baukunst.
Der nächste Zug braust vorbei. Danach schlägt an meine Ohren: Vorsorge, Behinderung, grippaler Infekt, Rezept.
Eigentlich wollte ich im Museum schreiben. Mich von Aron Demetz’ Menschen aus Baumstämmen inspirieren lassen. Leinen losmachen, Lunten legen, schnüren, stricken, fädeln, netzen, weben.
Demetz, Holzbildhauer aus Südtirol, hat den Sprung in die große Kunst geschafft. Über die Biennale in Venedig kam er nach Rolandseck in den Künstlerbahnhof: Durchgangsstation und auch Zuhause auf Zeit für Künstler und Künstlerinnen aller Sparten seit der Rheinromantik. Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, die Gebrüder Grimm, George Bernard Shaw, Nietzsche, Apollinaire. Auch Politik und Prominenz verkehrten hier gleichermaßen: Kaiser Wilhelm, Queen Victoria, Reichskanzler Bismarck. Nach den Weltkriegen ging es weiter, mit dem Bonner Galeristen Johannes Wasmuth, der den mittlerweile verkommenen und nur noch von Ratten und Ungeziefer besuchten Ort mit seiner Gesellschaft arts and music zu einem “Ort der Künste machte und schließlich der Spiritus Rector des Arp Museums wurde. Über den Zeitraum von fast dreißig Jahren entstand der Museums-Neubau von Richard Meier, der heute die Sammlung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp beherbergt - Wegweiser … in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit..., wie Arp es formulierte.
Zehn Jahre nach Wasmuths Tod wurde das Museum mit dem weißen, burgenartigen Bau eröffnet. Hoch erhebt es sich über den Rhein und den Bahnhof, über vierzig Meter führt ein Aufzug im Turm vom Tunnel aus dem Berg hinaus nach oben. Der Museumsbau verbindet Künstlerbahnhof und Berg und Museum und Arp und Kiefer und Meese und Götz und Donovan und Müller und Meier und alle mit allen. Kunst mit Natur und Skulptur und Architektur und Mensch. Es ist Wasmuths Werk und das derer, die hier zusammenkamen seit Mitte der 1960er Jahre. Durch politische Entscheidungen wurden die Gelder bereitgestellt, erhebliche Summen, nachdem Wasmuth zu Beginn den Bahnhof für eine symbolische D-Mark im Monat gepachtet und genau einhundert Jahre nach seiner Eröffnung vor dem Abriss bewahrt hatte. Es wurde geredet, verhandelt, begutachtet, beschlossen, verworfen und nochmals alles von vorne. Es wurde schließlich aber auch getan; gemauert, in Stand gesetzt, gebaut, erbaut. Die Künstler und Künstlerinnen aber haben den genius loci beatmet und bis heute am Leben erhalten. Günther Uecker: nagelte sich in einer Performance seinen Weg vom “Aufwachbett im Gästeraum bis aus dem Bahnhof hinaus auf den Vorplatz. Stephen McKenna: malte keck die Toiletten aus. Marcel Marceau alias Bip: schrieb  das Manifest von Rolandseck“. Weltklasse-Musiker wie die Pianistin Martha Argerich und der Cellist Mischa Maisky spielten im Festsaal, Ausnahme-Menschen wie der Dalai Lama kamen zu Besuch, die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller las… Alle gestalteten und gestalten sie diesen Ort weiter, schrieben und schreiben seine Geschichte fort. Auch ich tue das; hier und jetzt.
Ich muss heute nicht ins Museum gehen, auf der Terrasse des Cafés schreibt es sich besser, und ich habe genau vor Augen, was ich brauche.
Noch einmal stören mich die Frauenstimmen vom Nachbartisch - oder führen sie mich über Umwege dahin, wo ich hingehen will? Gestatten sie mir nur einen Puffer, eine Zeitschleuse, einen Aufschub, eine Zwischen-Aufmerksamkeit sozusagen? Einen Weg des in-mich-hinein-Hörens, Lauschens, Verstehens, während sie mich äußerlich ablenken?... Apotheke, Spritze, Symptome. Nein, diese Worte, diese Stimmen stören mich nicht. Das Leben ist ein Rauschen, ein Konzert, ein Klang.
Meine Hände sind aus Waldlaub geformt, sie rascheln beim Schreiben.
Die rotweiße Windhose an der Fähranlegestelle zeigt die Bewegung der Luft an. Ein Wehen ist im Rauschen. Die Tischdecke flattert an ihren Rändern, der Wind geht durch mein Haar und läßt es kurz schweben wie die Windhose. Das Wehen ist geräuschlos. Doch dort, wo mein Herz ist, höre ich es.
Und die ganze Zeit schreibe ich eigentlich über die verbrannten, von Beilhieben gestalteten und zerstörten, zersprungenen, vor Rissen klaffenden und mit schwarzem, braunen, bernsteinleuchtenden Harz überzogenen Zedernkörper, die im Inneren des Künstlernbahnhofs, direkt unter mir, Dantes Inferno inszenieren. Eine erstarrte Baum-Menschen-Hölle, geschaffen vom Bildhauer Aron Demetz.
In der Mitte der Ausstellung stehen ebenmäßige Menschengestalten, glatt wie Schaufensterpuppen oder Retorten-Wesen; dafür mit Störungen, aufgerauhten Oberflächen, die aussehen wie Fell oder Häutungen oder Verkleidungen. Nur in den aufgerispelten Strukturen verfängt sich der Blick. Es kitzelt in den Augen. Die Wesen wurden von Robotern gefräst, sie entstanden eigens für diese Ausstellung mit dem Titel: I  AM”, ich bin.
Am anderen Ende der Ausstellungsfläche stehen vier Kommunionsmädchen aus Lindenholz, teilweise weiß gefärbt. In ihrer Mitte tragen sie eine Miniatur ihrer selbst, aus demselben Holz geschnitzt. Die Miniatur steht auf einem Traggestell, anstelle einer Heiligenfigur. Initiation, spricht Arons Stimme, den Titel verlesend. In seiner kühlen Waldesstimme tönt ein entfernter Donner. Wie klingt eine Stimme aus Fichtenholz?
Aus den Augen der Mädchen sprechen Strenge, Kühle und Einsamkeit. Jede einzelne Figur inmitten der Gruppe ist alleine, für sich. Leid und Härte liegen wie ein zarter Film auf den glatten Gesichtern der katholischen Mädchen aus der Tiroler Bergwelt.
Ich sehe sie vor mir, genau wie vor sechs Tagen, als ich die Ausstellung besuchte. Das meine ich. Doch natürlich verändert die Erinnerung in jeder Minute, in jedem Bruchteil einer Sekunde das Bild im Kopf. Die Erinnerung reist durch den Körper und verändert das Bild.
Ich schließe die Augen. Das Licht wird verschluckt vom Dunkel eines kargen Kirchenraums.
Die Mädchen haben keine Stimmen mehr. Sie fielen aus ihren Mündern und wurden im Silber der Kirchengerätschaften gefangen. Sie leuchten und glimmen aus Kelchen und Weihwassergefäßen, aus Kruzifixen und Klingelbeuteln. Kyrie, Kyrie eleison! Herr, erbarme dich!
Ich werde klein und steige hinab von der Terrasse des Cafés in den Künstlerbahnhof. Lande direkt in Dantes Hölle bei Arons Figuren. Durchquere das Inferno und lasse die Fell-Mannequins zu meiner Rechten auf ihren Podesten stehen. Die Mädchen sehen mir entgegen, sie schauen durch mich hindurch. Sie wurden von ihrem Inneren verschluckt. Ich trage ein Kommunionskleid aus Lindenholz und eine Dornenkrone. Besteige das Traggestell. Es ist leer. Nun laufen die Mädchen los, langsam, feierlich. Ihre Schritte sind nicht geschmeidig, als tue ihnen das Gehen weh.
Ich stehe aufrecht in ihrer Mitte. Initiation!“, ein Schrei. Das Knistern von brennendem Zedernholz darin. Aus der Ferne ein Peitschenhieb aus einer tiefen Schlucht mit Echo zwischen den Bergen.
Die Mädchen tragen mich aus dem Künstlerbahnhof, die Treppe hinunter, über den Museumsplatz mit Arps bewegtem Tanzgeschmeide und Arons Bronzefiguren vom Beginn der Menschheit. I am, I am, höre ich sie, keuchend, fast röchelnd, fast hustend. Wünschen sie, dass ich sie höre? Und ist es ihnen recht, dass ich sehe, wie sie fast unmerklich ihre Köpfe drehen und uns hinterherschauen? Es ist, als blitzte es kurz aus ihren Augen: Bernsteinfunken. Aus dem Bahnhof zucken Blitze. Das Tanzgeschmeide wiegt sich leicht. Ein Wind ist gekommen und fährt in mein Haar. Ich spüre die schmerzhaft sehnsüchtigen Blicke der Mädchen auf mein wehendes Haar. Silbern leuchten einige Strähnen aus dem dunklen Braun meiner Haare unterhalb der Dornenkrone. Sie liegt nur leicht auf meinem Kopf. Da dröhnt Arons Stimme heran: Initiation!, und die Dornenkrone drückt sich kurz fest in mein Haupt. Blut läuft über meine Stirn, warm erreicht es die Augen, die Nase, die Mundwinkel. Klebt an meinen Lidern, tropft von den Wimpern und der Nasenspitze, rinnt in meine Mundhöhle. Das eigene Blut auf der Zunge zu spüren, erschreckt. Doch der Geschmack ist stark und salzig. Schmerz betäubt mich, der Wind trocknet das Blut auf der Haut. Das war nur kurz. Eine Warnung, eine Drohung, eine Demonstration von Macht.
Die Mädchen schreiten weiter mit mir zum Rhein hinunter.
Aller Lärm ist verstummt. Auf der Straße sind weit und breit keine Autos zu sehen, kein Zug wird jetzt  kommen, alles ist menschenleer. Auch die Fähre ist am anderen Ufer liegengeblieben. Es sind nur die Vögel  zu hören und der Wind. Doch Arons Stimme kann jederzeit ertönen und die Dornenkrone in mein Haupt drücken. Die Angst hält mich fest und aufrecht. Der Wind trägt mein Haar, die Mädchen meinen Körper mit dem Kleid aus Lindenholz.
Wir sind an der Fähranlegestelle angelangt. Die Mädchen setzen das Traggestell ab. Dann beugen sie sich über mich. Angst und Schmerz haben mich erstarren lassen, mein Körper ist verholzt. Nur mein Haar und die Dornenkrone und meine Hände nicht. Die sind noch immer aus Waldlaub.
Nun beginnt ein Ritual. Das erste Mädchen nimmt mich in seine Hand, das zweite nimmt mir die Dornenkrone ab und wirft sie in den Rhein. Das dritte Mädchen legt mich auf das Traggestell, und das vierte Mädchen küsst mich. Erst auf die Stirn, dann auf die Augen und den Mund.
Jetzt nehmen die Mädchen das Traggestell wieder auf und lassen es zu Wasser. Ich schwimme flussabwärts, auf den Wald zu. Die Schlange trägt mich zum Löwen, in dessen Leib mein Herz auf mich wartet.
Sanfte Wellen brechen sich am Rand meiner Bahre. Das Wasser spritzt auf meinen Körper, meine Hände, mein Haar und mein Gesicht. Es leckt das Blut von meinem Antlitz. Ich werde gewaschen. Mein Haar ist nass, meine Hände lösen sich auf. Schwere Blätter bleiben neben mir auf dem Holzgestell kleben oder sinken in den Fluss und werden fortgetragen. Auf meinen Lippen hat sich ein Lächeln geformt. Die Augen sind offen und empfangen das Licht des Himmels. Ein Donnergrollen kommt über den Berg hinter dem Museum.
Am Ufer stehen die Mädchen und winken.
Dann gehen sie zurück ins Museum. Sie tragen kein Gestell mehr, und ihre Kränze haben sie ins Wasser geworfen. Sie gehen auf die Terrasse ins menschenleere Café, während ich meinem Herzen entgegenreise.
  

Eva Wal, September 2014



... oder prosaische Lyrik


Vom Ver-fallen


Ein grobes Geschöpf steht in der Nacht

Eine Nagelskulptur

Spitze Nägel und derbe Pfähle
in den Kiefer gerammt

Das Geschöpf besteht fast nur aus seinem ziemlich groben Kiefer mit Nagel- und Pfahlzähnen

Seine Zunge ist ein pelziger Farn
Damit leckt das Geschöpf warme Milch vom Rande des Gartens

Es kauert sich in leuchtende Stellen in der Nacht, orangerot

Da steht eine Wächterfigur in einem Mantel aus Klatschmohn, glimmend in dunkelrotem Nachtleuchten

Die Figur steht am Gartenrand,
am Nachtrand, am Rande der Dämmerung; 
sie lässt keinen Traum hinein oder hinaus aus dem Leib der Nacht

Der Nachtleib des Gartens trägt verdorrte Früchte,
grüngelb und hart,
wie die Zähne im ziemlich groben Gebiss des groben Geschöpfs

Über den Rand seiner Zähne
wölbt sich ein Blumenmund

Ich küsse das Geschöpf

Mit ausgebreiteten Armen steht die Nacht vor uns: alles leuchtet rot

Ein Klatschmohnkuss

Der Schrei eines Pfaus dringt aus der Ferne
- Oder war es ein Esel?
  - Oder ist es ein Kauz?

Die Nacht ist ein Blatt, das fällt




Das Glasgesicht

Entre chien et loup, das Zwischenlicht hat seine eigene Zeit.
Sollte ich vergessen lernen?
Dich einladen in mein Herz?
Wer wartet?

Der Müdigkeit nachgehend schlafwandle ich durch das dunkle Haus, durch offene und geschlossene Türen hindurch.
Ein Gesicht aus Glas mit elektrisch leuchtenden, roten Augen schwebt über die Flure des Treppenhauses hoch und hinunter. Das Treppenhaus ist eine Hügellandschaft. Gebirgig, mit blauen und gelben Blumen überzogen.
Heimat, ein Seufzer ertönt aus einem Schlüsselloch. Die Augen des Glasgesichts leuchten dunkelrot und violett. Unter einer Türschwelle dringt Veilchenduft hervor.

Nachdenken - über was?
Sammeln, zusammentragen, die Fetzen und Fragmente zu Geschichten festzurren.
Und dann?
Die Geschichten: Brot, Steine, Federn aus Silber und Blei, Schilfkörbe - soll ich sie aus den Fenstern werfen? Die Treppen hinunterstoßen? Ablegen vor einer Tür wie einen Moses im Schilfkorb? Ach, ja, dieser eine Schilfkorb... wen interessiert der schon?
Ein heiseres Röcheln steigt vom Fußboden auf.
Mich!, rufe ich laut, klar und deutlich: Mich interessiert er!
Meine Stimme tönt plastisch wie eine Figur; körperhaft, lehmig und farbig klingt sie in die Dämmerung hinein; entre chien et loup, zwischen Hund und Wolf, wo der eine sich unbemerkt in den anderen verwandelt.
Tun sie es?
Ich bin ihnen begegnet, beiden aufeinmal, dem Hund und dem Wolf, und das ist eine Seltenheit! Ich habe sie direkt und persönlich gefragt, ob sich der eine in den anderen verwandelt, in diesem Zwischenlicht,  in dieser Zwischenzeit. Doch bevor sie antworten konnten, stand das Glasgesicht am Waldrand - dort trug sich das Treffen zu - und das Glasgesicht sprühte grüne Funken aus den Glasporen; darüber vergaß ich die Antwort des Hundes und des Wolfs.
Ich weiß nicht einmal mehr, ob sie wirklich geantwortet haben.

Als sie mir wieder einfallen, sind sie verschwunden – verschluckt von ihrem eigenen Licht, entre chien et loup.
Zurück, zurück in den Tag!
Die Sterne stehen schon am Himmel, denn von irgendwoher fiel ein schwarzer Vorhang, lichtundurchlässig und teuer. Zum Glück fiel er zwar vor das Tageslicht, aber hinter die Sterne.
Sterne blühen wie Blumen; sie schmücken den Himmel, überziehen ihn mit einem See aus leuchtenden Farbtupfern und Veilchenduft.

Wir gehen zusammen schlafen.
Wir träumen.
Wir träumen.

Wir träumen.



Bruder Ernst, Bruder Alfons


Gestern war die Beerdigung von Dr. Ernestus Nettesheim. In einer stattlichen Kirche am großen Fluss wurde die Messe gelesen. Viele Menschen waren gekommen. Seine ehemaligen Kollegen hatten einen Bus gemietet, um ihrem vor einem guten Jahr an Krebs erkrankten Freund und Kollegen die letzte Ehre zu erweisen.
Vor dem Altarraum ein Bild des Verstorbenen, lächelnd, in weißem Hemd, an einen Baum gelehnt. Daneben die Urne aus blauem Porzellan auf einem Sockel, von dem dunkelroter Pannesamt floss. Blumenschmuck in Weiß, Grün, dezentem Rosa und Blau. Der Pfarrer sprach durch ein Mikrophon. Der beste Freund hielt eine Ansprache.
War dieser „geliebte Ehemann“ und „herzensgute Sohn“ vielleicht Jesus? Nie dachte er an sich, immer erst an die anderen. Er liebte die Natur, sah die Details. War verbunden mit dem, was man hinter dem hohen weiten Himmel, der sich über grüne Wiesen und blühende Felder spannt, vermuten mag. “Gott“, so den Pfarrer, „hat den Namen „Ernestus“ in seine Handfläche geschrieben. Er hat ihn zu sich geholt. Er will, dass er nun bei ihm bleibt, er gehört ihm.“
Er hatte ein freundliches Wesen, war lebensfroh – ja, so habe ich ihn auch kennen gelernt, als Freundin der Witwe. Doch meine Freundin hatte immer wieder über seinen Geiz geklagt, von seiner Sorge um das Geld trotz seines beträchtlichen Vermögens.
Dr. Ernestus Nettesheim, promovierter Physiker, Spitzensteuersatz. Lange Zeit Junggeselle, Single, Lebemann. Diagnose Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Heirat knapp ein Jahr vor seinem Tod. 
Der Pfarrer spricht die Sonnengesänge des heiligen Franziskus von Assisi. Dort, bei Assisi, an einem Olivenbaum, der auch auf der Traueranzeige zu sehen ist, in grüner Wiese und blühendem Feld, ist auch das Bild aufgenommen, das zum Abschiednehmen für die Trauergemeinde vor dem Altarraum steht.
„Bruder Ernst“, sagt der Pfarrer. Er segnet die Urne mit Weihwasser.
Wir singen und beten, knien nieder, erheben uns, senken das Haupt. Einige empfangen die heilige Kommunion.
Vorne in der ersten Reihe sitzen die Witwe und die Eltern des Verstorbenen. Ein Mann von Wohlstand und Bildung in seinen besten Jahren. Nun hat die Krankheit ihn zugrunde gerichtet, der Krebs; der Tod hat ihn geholt.
Zwei Männer in dunklen Anzügen heben die Urne in einem Gestell mit Blumenschmuck von ihrem Sockel und tragen ihn aus der Kirche. Die Gemeinde folgt.
Zuerst die Witwe, alleine.
Dann die Mutter, auf den Vater gestützt.
Ich habe Respekt vor dem Tod und Mitleid vor allem mit der Mutter.
Richtig ist, dass der Sohn die Mutter zu Grabe trägt.
Falsch ist, dass die Mutter den Sohn zu Grabe trägt.
Das kann Gott doch nicht so wollen!
Ihr Haar ist weiß, ihre Füße wollen nicht gehen, doch den Rollstuhl, der vor der Kirche auf sie wartet, lehnt sie ab. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Gesichtszüge starr.
Wir schreiten durch den Park am Friedhof vorbei zum Mausoleum.
Ein steinerner Palast hoch über dem großen Fluss. Bruder Ernst wollte nahe an diesem Fluss seine Ruhestätte finden.
Hohe Stufen führen ins Mausoleum. Der Boden ist mit Mosaik geschmückt. Ich schaue nach oben. Zähle zwölf runde Fensteröffnungen unter der Kuppel. Unter dem Mosaik die Gruft, von einer Steinplatte verschlossen. Eine schwere Tür steht halb offen. Dahinter die Treppen; sie führen hinunter in die Gruft. Rechts und links wird die Tür von zwei Statuen bewacht. Barbusige Frauen mit ebenmäßigen Gesichtszügen und Blumenkränzen.
Die Trauergemeinde steht im Halbrund um die Urne. Dann hebt einer der Männer in dunklem Anzug die Urne von ihrem Blumenschmuck und geht mit ihr durch die Tür, die Treppen hinunter.
Die Mutter sinkt zusammen, schluchzt.
Nun ist er weg, für immer. Jeder ist mit sich alleine.
Langsam verlassen wir das Mausoleum und treten ins Freie.
Es starb ein Reicher, der Franz von Assisi liebte und die Natur.

Ich habe dem Tod und dem Toten meine Ehre erwiesen. Kam für eine Freundin, die einen schon Todkranken heiratete. Er verstarb zu früh.
Ich verzichte auf den Leichenschmaus im feinen Restaurant. Schwinge mich aufs Fahrrad und fahre am großen Fluss entlang, stromabwärts nach Hause.

Vor meinen Augen stürzt ein alter Mann. Auf dem Rasenstreifen am Fluss, neben dem Fahrradweg, fällt er vom Fahrrad, beinahe mit dem Kopf an die angrenzende Mauer, das Fahrrad fällt auf seine Beine.
Ich bin direkt in diesen Moment hinein gefahren, als Alfons Hauser wieder einmal ohnmächtig wird und vom Fahrrad fällt.
Ich drehe um; es geht ja so schnell, dass man vorbei gefahren ist - noch ein paar Pedaltritte weiter, und man glaubt schon nicht mehr, was man gesehen hat - und fahre zu dem alten Mann, der mit hellblauen aufgerissenen Augen am Boden liegt. Er liegt auf dem Rücken, die Hände zur Brust gedreht und nach innen gekrampft.
Wer ist er? Ein Penner, der schon am helllichten Tage besoffen ist?
Der alte Mann hat ein paar Streifen und Flecken am Kiefer - von Stürzen? Er hat fast keine Haare mehr. Seine Kleidung ist gepflegt, er riecht nicht auffällig. Auf dem Gepäckträger seines Fahrrads ist eine blaue Sporttasche ordentlich verspannt, obenauf klemmt eine Plastikflasche Coca Cola.
Ich hebe das Fahrrad von seinen Beinen, rufe: „Hallo“, knie nieder und fühle seinen Puls.
Der Mann starrt mich aus hellblauen Augen an. Er ist nicht bewusstlos.
Zwei junge Frauen eilen herbei und fragen nach seinem Namen.
„Hauser“ heiße er, „Alfons“. Er wolle nicht, dass man einen Krankenwagen hole.
Die jungen Frauen meinen aber doch. Sie sind schneller als ich, das Handy am Ohr rufen sie schon den Rettungsdienst. Man kenne dort beim Rettungsnotruf den Namen „Alfons Hauser“ schon, berichten sie mir.
„Wollen Sie etwas trinken?“, frage ich Herrn Hauser. „Nein“, sagt er, davon müsse er sich nur übergeben. Und Durchfall habe er auch, eigentlich immer.
Ich nehme die Sporttasche vom Gepäckträger und schiebe sie unter seine Knie. „Ist das gut?“, frage ich, Alfons Hauser nickt. Die jungen Frauen erwähnen die stabile Seitenlage. „Ist das nicht besser?“
Wir ziehen den alten Mann von der Mauer weg, so dass sein Kopf nicht mehr abgeknickt liegt. Eine der Frauen zieht ihre Jacke aus und faltet sie zusammen; wir schieben sie unter seinen Nacken. Alfons Hauser scheint wieder zu nicken.
Ich halte die Hand von Alfons Hauser und streichle ihn an der Schulter. Ob er gerade stirbt?
Er erzählt: 73 Jahre sei er alt und obdachlos. Seit sieben Jahren werde er ohnmächtig. Jeden Tag falle er mehrmals um. Man habe ihn schon mit dem Hubschrauber aus dem Fluss gezogen. Er wolle so nicht mehr leben. Auch die letzte Nacht habe er im Krankenhaus verbracht; am Morgen habe man ihn wieder aufs Fahrrad gesetzt.
Und nun fährt er am Fluss entlang, so lange, bis er wieder umfällt.
Seine Hände krampfen sich immer wieder zusammen, er zittert, heftig, sagt, sein Herz tue weh, steche, tue sehr weh, er wolle so nicht mehr leben.
Ich sage „ganz ruhig“ und „alles wird gut“.
Nichts wird mehr gut für Alfons Hauser.
Der Rettungswagen kommt, vier Sanitäter, drei junge Männer, eine junge Frau; sie sind schon bei uns, mit Schreibblock und rotem Formular der eine, mit grünen Gummihandschuhen die andere. „Hallo Herr Hauser“, rufen sie, „da sind Sie ja wieder!“
Herr Hauser richtet sich auf.
Eingesammelt wird er nun wieder und dann wieder hinausgeworfen.
Man finde nichts bei ihm, erzählte er. Keine Ursache, keine Krankheit.
Wer soll das denn auch bezahlen, einen Obdachlosen für längere, aufwendigere, teurere Untersuchungen im Krankenhaus zu behalten?
Herr Hauser wird versorgt. In anderen Ländern würde man ihn liegen lassen, da gibt es gar keine medizinische Versorgung für so jemanden wie Alfons Hauser. Er würde verrecken, am Straßenrand. Hier kommt ein Krankenwagen mit gleich vier Rettungssanitätern zu einem Obdachlosen.
„Sollen wir Sie jetzt mal mitnehmen?“, fragt einer der jungen Männer.
„Und mein Fahrrad?“, fragt Herr Hauser.
„Das können wir hier abschließen, und Sie holen es später ab“, sagt ein anderer.
„Ich bringe es ihm!“, sage ich darauf.
Alfons Hauser sagt, viele Leute hätten ihm schon sein Fahrrad gebracht, sogar die Polizei.
Die Sanitäter bedanken sich bei mir und sagen „Sie können jetzt gehen“.
„Und das Fahrrad?“, frage ich. „Das kriegen wir schon hin, das nehmen wir schon irgendwie mit“, antwortet der Sanitäter und nickt mir freundlich und mit Nachdruck zu: „Sie können jetzt gehen!“. Einer fragt noch eben, ob ich denn gesehen habe, wie Herr Hauser hinfiel.
Ich erzähle, was ich gesehen habe, die Sanitäter nicken. Was tut es denn schon zur Sache?
Sie wissen genug, um ihn aufzusammeln. Er bleibt ja nicht lange.
Zum Bleiben gibt es für Schwestern und Brüder wie Alfons Hauser keinen Platz in unserer Wohlstandswelt - auch nicht, wenn man einmal nachrechnen würde und herausfinden, dass so ein Platz billiger wäre als die täglichen Rettungseinsätze. Doch was wäre das dann für ein Platz, im Altenheim, in der Obdachlosen-Unterkunft, in einer Wohnung, ob reich oder arm, ganz alleine?
Ich nehme mein Fahrrad und entferne mich von der Unfallstelle. Drehe mich noch einmal um. Herr Hauser zwischen den Rettungssanitätern, die sich um ihn kümmern. „Ich will so nicht mehr leben“, höre ich ihn sagen.

Ich will bei Alfons Hauser bleiben, seine Hand halten und nicht den Krankenwagen holen. Soll er sterben, dort am Fluss! Endlich einen Platz finden zum Sterben und jemanden, der seine Hand hält, wenn er stirbt.
Dann hebe ich ihm ein Grab aus in der Wiese, dort, wo er zum letzten Mal hinfiel.
Ein Geistlicher kommt auf diese Wiese am Fluss, es duftet nach Gras und Blumen.
Der Geistliche hält die heilige Kommunion für Bruder Alfons.
Einige Brüder und Schwestern sind auch gekommen. Die meisten kennen den Verstorbenen von seinen Stürzen; sie haben ihn aufgehoben, den Krankenwagen geholt und ihm sein Fahrrad ins Krankenhaus gebracht.
Wir werfen Erde in das kleine Grab, jeder eine Schaufelspitze voll.
„Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub“, spricht der Geistliche.
Dann verschließt er das Grab. Wir stellen ein selbst gezimmertes, einfaches Kreuz darauf.
Hier ruht Bruder Alfons. Der Fluss war sein Zuhause.
Zuletzt segnet der Geistliche das Grab mit Wasser von diesem Fluss, und wir singen die Sonnengesänge von Franz von Assisi:
Gelobt seist Du, mein Herr, durch Schwester Wasser“.
Dann gehen wir nach Hause.

Schon wenige Jahre später sieht man am großen Fluss ein neues Mausoleum entstehen; viel größer als jenes, das schon ein Stück weiter flussaufwärts steht.
Das neue Mausoleum steht auf einem naturbelassenen Stück Wiese. Nur der Weg dorthin ist gepflastert. Das Mausoleum ist mit italienischem Marmor ausgekleidet und goldverziert. Er war uns allen ein Vorbild, steht eingemeißelt unter der Büste des Bruder Alfons, der zu uns herablächelt. Voller Milde und Demut, umringt von Statuen barbusiger Frauen mit ebenmäßigen Gesichtszügen und Blumengirlanden.

(c) Eva Wal, VG Bild
(c) Eva Wal, VG Bild


Revolution 

Das Gartenparadies


In meinem Garten blühen 
bunte Blumen,
rot, gelb, blau und weiß.
Von nebenan mähen Schafe, muhen
Kühe, ab und zu.
Gelegentlich Hunde, Katzen, Bellen, Miauen.

Das nennt man
Stille,
Frieden,
Landstille, Landfrieden.

Grünes Gras und Vogelgezwitscher, darinnen ich, mitten im Gartenparadies.
Der Apfelbaum, Blüten bereits verblüht, trägt erste Frucht: grün, jungfräulich grün.
Erwartungsgrün.
Ich neben meinem Apfelbaum. 
Mein Apfelbaum, meine Früchte. Zufriedenheit. Genuss. Geduld.

Beet anlegen: Harte Arbeit, den Boden umgraben, von Steinen und Schnecken befreien. Doch lohnt die Arbeit, denn nun wachsen meine Pflanzen.
Freude.
Verheißung, denn das Wachstum ist Leben und ist in uns allen, die wir Natur sind, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze. 
Wachstum ist Leben und gottgewollt gut.

Die Pfingstrose ist aufgegangen; 
rosa Pracht mit Stich ins Violett.
Betörender Duft.

Warten auf die Kürbispflanzen: Erst zart und grün die Blätter, dann kräftiger, und dann die Frucht: groß und größer und gelb, orange und rund und lecker.
Endlich.
Hoffentlich, denn: 
Schnecken warten auf ihr Mahl, Läuse warten auf ihr Mahl, am Abend wird es wieder schmecken, soweit, so geht es noch mit ihnen, den Tieren und uns, den Menschen…

Denn: Schnecken killen mit Bierfalle, dionysischer Trick, (nein, nie wieder zerschneide ich eine mit der Gartenschere, wie die Nachbarin es tut und sogar die Pfarrersfrau!, - da spritzt Blut und krümmt sich ein Tier, das erinnert zu sehr an menschliches Leid durch Killer, ja eiskalte Killer, ja Krieg- Nein! No War, make love, not war! 
Im Suff sterben, das ist doch human, oder?)
Zwischen den Fingern Läuse zerreiben, da spüre ich nichts, fast nichts. Sind nur Läuse, winzig, klitzeklein, zu klein für ein Gefühl.

Paradiesgarten, Gartenparadies: Eine Katze streicht über die Wege am Haus entlang und über die Wiese, ruht im Schatten der Büsche und Bäume, kaut mal einen grünen Grashalm zur Verdauung. Weiter oben in den Bäumen klangvolles Vogelgezwitscher, von Vögeln mit bunten Schwänzen und Kehlen. Kleine Vögel.

Manchmal oben am Himmel: Greifvögel (Aasfresser).

Unsichtbar: der Marder.

Eva im Paradies, das bin ich. Aufgabe:
Katzen hindern am Kacken ins Beet, Vögel am Nisten hindern im neuen Dach, Marder am Eindringen hindern ins Haus, Schnecken und Läuse killen, das geht, das geht. 
Heißt: Einklang von Mensch und Natur.
Gleichgewicht.

Doch dann kommen neue Gedanken heran wie komische Fliegen, schwirrend, verirrt… eine Laune der Natur, meines Gehirns (das aussieht wie eine Nuss in Menschenkopfschale). 
So denke ich:
Sonne am scheinen hindern, Bäume am baumen hindern, Kürbisse am zu gelb, zu groß sein hindern, Wasserkopp kappen. 
Blödsinn, echt.
Heiß und hitziger denke ich, von Gott geschaffene Paradiesfrau, vertriebene Verführerin und naive Naturfreundin, ökopazifistische Ruhesucherin mitten in diesem verdammten Landlärmen.

Scheißegestank. Gülle.

Rot zittert es hinter meinen geschlossenen Augenlidern, Glutblüten tanzen auf meinen Augäpfeln; die Gedanken weit übers Ziel hinaus geschossen (welches Ziel?).
Hejo, spann den Wagen mit den apokalyptischen Windsbräuten an!

Schweißtropfen keimen auf meiner Haut, ein brutales Wetter treibt heran, heee, Hejo, he!

Vogelgeschrei, Brüllen im Sturm.

Stille.

Plötzlich: Das Gras schießt in die Höhe, hoch und höher, ist messerscharf. Ungeziefer klettert an den Halmen herauf. Käfer und Getier mit schrecklichem Schneidwerk, werden immer größer. Spitz und eckig die Köpfe und Panzer über runden und ovalen Hälsen, Bäuchen, Augen. 
Formenchaos in der Natur. Nichts passt aufeinander, ineinander, zueinander.

Was ist los? Habe ich ein Blatt gekaut, das nicht für meine Wahrnehmung bestimmt war?
Mit paradieszerstörender, psychedelischer Wirkung?

Mensch, das ist doch nur ein Traum! Vorstellung einer überspannten Menschenpsyche. Weiblich. Hysterisch.
Komm, beruhige dich, Natur! Mensch, Tier, Pflanze, komm, komm! Wir können doch alle irgendwie in Frieden zusammenleben. Von mir aus kein Problem, Naturfreundin ich. 
Von mir aus kriegt die Schnecke den Löwenzahn, den einen dahinten am Zaun zum Nachbargrundstück, und der Marder kann im Schuppen übernachten, ausnahmsweise.
Komm, Traum, geh!

Vogelgeschrei, Brüllen im Sturm.
Stille. Gestank.

Natur, bleib, wo du hingehörst, wo ich dich haben will, klar?
Sonst hol ich Maschine, Maschinengewehr, chemische Keule, irgendwas aus Menschenhand, bummbumm. Naturfeindlich dann eben ich auch - klar? Obwohl ich das wirklich nicht gewollt habe, nachweislich eine Natur- und Friedensfreundin, ich.

Vogelgeschrei, Brüllen im Sturm.
Güllescheißegestank. Stille.

Komm, ist doch nicht wahr- oder?
Krieg?

Flügelschlagen tönt in meinen Ohren, zieht mit dem schrecklichen Wetter heran. 
Riesenhafte Fledermäuse zischen durch den nahenden Sonnenuntergang; das Licht über dem Horizont verdunkelt sich.
Den Fledermäusen habe ich definitiv nichts getan - habe ihnen sogar einen Nistkasten aufgehängt!

Mückentanz, lautlos im Vogelstreit. 
Scheißstreit.

Zwischen keifendem Getier wachsen nun dick und glibbrig die Nacktschnecken herauf:
Gartenbuddahs, die Aggros im Wanst versteckt. Gier tropft als weißlicher Schleimschein in der Düsternis an den Schneckenleibern herab. 
Bedrohung pur.

Die Dimensionen haben gewechselt. Kein Traum, sondern: Revolution im Paradies. 
Die Schnecken sind aufgestanden, die Läuse, das unterdrückte Getier.
Wahrheit. Erwachen.
Pech.

Und so schallt es über den Garten, den Landstrich, die Wälder, Felder, Höfe, Häuser und durch den Äther darüber bis in ferne Gartenparadiese: 
WIR   WOLLEN   DAS   PARADIES!

Juli 2013



Die Ankunft der Goji-Beere

Am Morgen tritt Frau Eva vor die Türe ihres alten, schiefen Fachwerkhauses.
Es hat geregnet, das Gras ist grün und nass. Der erste Gang durch den Garten gilt dem Schauen nach den Pflanzen in den Beeten und den Neuankömmlingen, die noch in ihren Töpfen auf den richtigen Platz im Garten warten.
Alle sind wohlauf und munter, recken ihre grünen Blätter in den Landmorgen und strecken lächelnd ihre Köpfchen daraus hervor.
Frau Eva ist zufrieden und lächelt auch.
Doch da sieht sie, dass an der gerade erst gestern aus Vierlanden eingetroffenen, ganz jungen Goji-Beere einige der zarten Blätter stark angefressen sind. Kreisrunde Löcher starren Frau Eva frech ins Gesicht. Mehrere Blätter sind geradezu durchsiebt. Fachkundig erkennt sie sofort den Missetäter hinter dieser Tat.
„Schnecken!“, zischt sie - und empört hebt sie das Töpfchen mit beiden Händen von der Erde, drückt es an sich und trägt es ins Haus hinein.
„Stell dir vor“, erzählt sie ihrem Gatten Oliver, „eine Schnecke hat sich an unserer kleinen Goji-Beere zu schaffen gemacht und schamlos mehrere Blätter durchfressen! Nun stelle ich sie erst einmal ins Haus“.
„Unglaublich!“, ruft der Gatte aus, und auch der Gast Christoph schüttelt fassungslos den Kopf.
So stellt nun Frau Eva das Töpfchen behutsam auf die Fensterbank, streicht noch einmal über die verbleibenden Blättchen, seufzt leise und wendet sich dann ihrem Tagwerk im Fachwerkhaus zu.
„Und“, fragt Gast Christoph da, „hast du denn genau nachgeschaut, ob die Schnecke auch wirklich nicht mehr auf dem Pflänzchen sitzt?“
Vorsichtshalber kehrt Frau Eva noch einmal zur Fensterbank zurück und lässt einen prüfenden Blick über Stiel und Blätter der Goji-Beere streifen, will sich schon wieder abwenden, - da sieht sie, zwar gut getarnt auf der braunen Erde, doch so groß und dick, dass es schier unmöglich scheint, sie jemals übersehen zu haben: eine Nacktschnecke. Strotzend vor Appetit, schmatzend und grinsend liegt sie da auf dem frischen Boden unter der lockenden Beere. Eine Serviette hat sie um den speckigen Hals gebunden. Messerchen und Gäbelchen stecken rechts und links in den gierig zuckenden Schneckenfingern. Speichel trieft zwischen ihren Kauwerkzeugen hervor und rinnt ins Erdreich. „Lecker“, schnauft sie, die unverschämte Nacktschnecke, „jetzt speise ich in der guten Stube“.

Und wie ging es weiter?
Frau Eva trug das Töpfchen mit der Goji-Beere wieder ins Freie, trennte Fressende von Gefressenwerdender, warf die Nacktschnecke aufs Nachbargrundstück und setzte dann ihr Tagwerk fort.

Von nun an inspiziert Frau Eva jeden Morgen ihre Pflanzen besonders genau und vergisst nicht, die Erde um sie herum mit schneckenscharfem Gärtnerblicke abzusuchen.

Und wenn sie nicht gefressen sind, dann leben sie noch heute.

"Goji", Eva Wal, Juni 2013
Spuren der Übeltäter (Foto: Eva Wal)

Zucker beim Italiener

oder

Eiscafé Dolomiti in Bonn Tannenbusch


Ich habe noch fast eine Stunde Zeit bis zur Präsentation. Gehe in das Café, wo wir zum Abschluss unseres Projekts Eisessen waren. Jedes Kind bekam eine Kugel Eis von mir spendiert.
Dafür war sogar Achmed bereit, den ganzen Vormittag niemanden zu beleidigen, und alle halfen mit beim Aufräumen. Dann sagten alle Kinder: "Vielen Dank, Frau Wal" und benahmen sich im Eiscafé, das wir mit je einer Eiskugel in der Waffel fast vollständig besetzten, ganz passabel. Das waren mir die achtzig Cent pro Kind allemal wert.
Doch der materielle Wert der Eiskugel konnte es nicht sein, der mir die wilde Truppe in eine relativ zahme Schar verwandelte.
Ich hatte es nicht geschafft, ihnen Respekt und Achtsamkeit für Dinge wie meine Aufnahmetechnik, Videokamera und Mikrophon, oder meine Musikinstrumente beizubringen (niemand verstand so richtig, was nicht o.k. daran sein sollte, eine Blockflöte am nassen Waschbecken abzulegen); doch jetzt verschaffte mir schon das Versprechen, alle zu einer Kugel Eis einzuladen, ein einigermaßen respektvolles Verhalten und echte Dankbarkeit, gemischt mit einer Prise Furcht: "Frau Wal, wir gehen doch Eisessen? Sie laden uns doch wirklich ein, oder?"

Um was ging es bei den Kindern, frage ich mich heute wieder. Was bedeutet diese eine Kugel Eis? Befriedigung, Glück, Bedürfnis, Genuss, Gier, Sucht, Liebe, Liebesersatz, Mangel, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Akzeptanz, Geschenk,  Symbol, Zeichen, Fetisch, Versprechen, Handel, Projektion, Trost, Manipulation, Droge, … assoziiere ich.
Die Machtausübung durch Zucker wird unterschätzt, denke ich weiter. Zucker ist ein Rohstoff, der bei Kindern so zu wirken scheint wie etwa Glasperlen-Geschenke bei Eingeborenen auf Südseeinseln zur Kolonialzeit. Oder Gold! Als die Spanier Südamerika eroberten, schreckten sie vor keiner Gräueltat zurück, um in den Besitz von Gold zu kommen. Die peruanische Bevölkerung soll sich gefragt haben, ob die Spanier Gold essen.
Zucker, Glasperlen, Gold: In Wahrheit sind bestimmte Stoffe verantwortlich für die Geschichte und das Schicksal unseres Planeten. Stark wie Pulver und Blei oder Religion. Wow!
Doch es ist nicht der Stoff allein. Beim Zucker kommt es auf die Verpackung und die Art der Verabreichung an. Sie muss ein Versprechen bergen, ob Coca Cola, Eis oder Überraschungsei aus Schokolade.
Mir fällt eine kleine Geschichte ein, die sich vor unserem Supermarkt in der Bonner Altstadt abspielte. Dort saß regelmäßig ein junger Mann und bettelte. Stumm und eingekauert, denn der Winter war sehr kalt, harrte er vor seinem Bettelbecher aus.
Manchmal gab ich ihm Geld, doch dann entschied ich mich, ihm in Zukunft etwas zu Essen zu kaufen, einen Apfel. Der ist gesund, und ich hielt es für eine Geste der Aufmerksamkeit. Scheiß Geld!
Der junge Bettler bedankte sich jedes Mal artig. Doch eines Tages hatte ich den Apfel vergessen. In der Schlange vor der Kasse erst fiel es mir ein. Kurz entschlossen griff ich zur so genannten „Quengelware“, in diesem Fall ein Überraschungsei aus Schokolade. Als ich es dem jungen Mann gab, wäre er fast aufgesprungen vor Freude. Sein Gesicht leuchtete, als säße er vor einem Weihnachtsbaum, um den herum sich die Geschenke nur so stapelten. "Schokolade!", rief er immer wieder. Man könne ihm alles wegnehmen, er könne auf alles verzichten im Leben, Härte sei er gewohnt, aber Schokolade sei sein Glück. Schon als Kind habe er Schokolade geliebt, Schokolade, Schokolade. So ähnlich schwärmte er.
Wären doch Eltern und Erzieher, Richter, Lehrer, Verkäufer, Polizisten, Politiker und Banker alle einfach aus Schokolade! Man könnte sich gegenseitig ablecken, voneinander abbeißen und sich zum Fressen gern haben; die Welt wäre eine bessere und glücklichere.
"Danke! Vielen, vielen lieben Dank!", rief mir der junge Mann vorm Supermarkt noch hinterher, als ich schon auf dem Fahrrad davonfuhr.
Es war mir peinlich, und von da an fühlte ich mich geradezu verpflichtet, ihm jedes Mal Schokolade zu schenken.
Zucker, ob in Eis oder Schokolade, ist ein Stoff, der das Hirn beeinflusst und Depressionen entgegenwirkt. Zucker macht süchtig und abhängig. Zucker ist ein Genussmittel, eine Droge.
Zucker, Zucker, Zucker.
Die Kinder, die an meinem Projekt teilnahmen, haben übrigens eine Geschichte erfunden vom "Planet Zucker und Planet Vitamin". Erst sind die Bewohner verfeindet, doch dann versöhnen sie sich und bleiben für immer Freunde.

Ich bin im Eiscafé Dolomiti in Bonn Tannenbusch, einem Multikulti-Stadtteil, in dem die Kinder auch eine Geschichte erfinden mit dem Titel "Familie im Brennpunkt".
Der Kellner ist Italiener. Er bediente uns auch, als wir unseren Projektabschluss mit einer Kugel Eis feierten. Achmed, der große Chef in der Gruppe, haute den Kellner an: "He, mach mal den Donald Duck!"
Ich sah den Kellner diskriminiert, ermahnte Achmed sofort, doch der Kellner blieb freundlich und Achmed bettelte: "Bitte, bitte, nur einmal Donald Duck!"
Der Italiener verstellte daraufhin seine Stimme und brachte dabei einmalige Laute hervor: Donald Duck also. Die Kinder lachten und klatschten. "Nochmal, nochmal!", kreischten sie.
Ich fragte den Kellner und die Kinder, woher sie sich kannten. Der nette Kellner hatte in der Schulmensa gearbeitet, erfuhr ich darauf. "Warum bist du nicht mehr da?", fragten die Kinder und riefen: "Das ist doof da ohne dich!"

Heute komme ich ohne die Schüler, setze mich an einen Tisch am Eingangsbereich. Links am Tisch neben mir sitzen zwei alte Männer und unterhalten sich angeregt in rheinischem Dialekt. Rechts von mir füttert ein junger Mann seine kleine Tochter mit weißem Milchschaum. Als ich einen Cappuccino bestelle, zeigt er auf mich und sagt: "Siehst du". Wir unterhalten uns, wie lecker Cappuccino und süßer Milchschaum schmecken. Das Mädchen lächelt mich schüchtern an. Als der dunkelhäutige Vater mit seiner Tochter das Café verlässt, grüßen ihn die alten Männer freundlich. Multikulti im Brennpunkt Bonn Tannenbusch.
Der Kellner steht am blank polierten Tresen, schlägt die Zeitung auf, schlägt sie wieder zu, singt etwas auf italienisch, das die Worte "Padre" und "Maria" enthält, während die Bedienung Gläser poliert und sie in das Regal hinter dem Tresen einräumt. Dann bringt der Kellner einem Gast im hinteren Teil des Cafés einen Rotwein, schwenkt ihn stilvoll in einem großen Glas.
Ich genieße den Capuccino.
Als ich ausgetrunken habe und gerade zahlen will, kommt eine ganze Schar Kinder ans Café. Sie sind in Begleitung einer Frau, die ihnen vielleicht gerade eine Kugel Eis ausgibt. Die meisten drängen sich draußen an der Eistheke, um sich eine Sorte auszusuchen. Doch ein paar Mädchen kommen hereingestürzt und scharen sich um den Italiener, der schon zur Tür gekommen ist. Ein Mädchen mit hellbrauner Haut und dicken schwarzen Locken umschlingt seine Hüfte und drückt ihren Kopf in seinen Bauch. "Warum bist du gegangen?", wollen die Kinder wissen, "wir vermissen dich!" Der Italiener mit dem gepflegten Backenbart und breiter, viereckiger Brille lacht und sagt irgendetwas, doch die Kinder wollen nicht von ihm ablassen.
Ist es seine Stimme? Seine Sprache? Was ist das für eine Sprache? Hat er Zucker in der Kehle?

Ich warte in Ruhe, bis der Kellner Zeit hat, meinen Cappuccino zu kassieren.
Dann gehe ich zurück zur Schule, um unser Kunstprojekt zu präsentieren.
"Zucker, Liebe, Donald Duck, Glasperlen...", murmle ich leise vor mich hin; und ich hoffe und will in diesem Moment erleichtert glauben, dass die Geschicke der Welt doch nicht nur durch Zuckersucht, Galsperlengier und Goldrausch entschieden werden; zumindest nicht ganz - solange jedenfalls, solange es Menschen wie den Italiener gibt.


Eiscafé Dolomiti in Bonn Tannenbusch, Juni 2013



Schneegestöber

oder von der Unmöglichkeit zu sagen, was ich sagen will




Über das Träumen, Zeichnen und Schreiben wollte ich schreiben…

Es schien mir natürlich darüber zu berichten, wie ein Text entsteht; ein solcher Text, der ein Sprachgewebe ist, eine poetische Textur…

Es schien mir so, wie zu sagen: Heute bin ich aufgewacht. Aufgestanden aus meinen Träumen. Ich habe mich gewaschen, gereinigt, kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Dann habe ich einen Kaffee getrunken, das Fenster geöffnet und einen Schritt in den Himmel gemacht.

Worte fallen aus dem Himmel. Bleiben am Himmel, sind die Luft. Weiße Flocken, Formationen ohne erkennbare Muster, Wirrwar. Aus dem Schneegestöber zieht sich ein Faden; fest, aber nicht zu fassen. Worte, Klang und Zeichen finden zusammen wie Traumsymbole, die aus dem Unterbewusstsein heraufgespült werden. Sie reißen das Tagesgeschehen mit und drängen es in Bilder.

Dies zu sagen, zu beschreiben, schien mir nahe liegend, selbstverständlich, ja, fast, als wäre es alltäglich... logisch wie traumlogisch oder kindlich-logisch, gegen die Logik.

Draußen regnet es. Der Regen beruhigt mich. In mir ist Schnee.

Ich halte den Stift. Er verschwindet hinter dem Schneegestöber in meiner Hand.
Das Blatt Papier ist so nah vor mir wie die weiße Schneeluft. Sie ist ja an mir und in mir, aber ebenso weit entfernt wie die fernsten Gestirne. Gedanken tanzen, verschwommen, bewegen sich in geräuschhaften Kompositionen. Anwesenheit ist gleich Abwesenheit.

Langsam dämmert es mir, bekommt der Gedanke Kontur und Gewissheit, dass es unmöglich ist zu erzählen, wie ein Text zwischen Träumen, Zeichnen, Denken und Sprechen entsteht.

Ich zeichne die Unmöglichkeit auf. Eine Linie beginnt sich zu bewegen. Sie wird zum Zeichen. Sie wird laut. Sie nimmt meine Hand mit dem Stift und zieht mich fort. Reißt mich mit.

Es schneit. Ich habe mich verirrt. In diesem tanzenden, aufgewühlten Meer, in dem ich selber tanze wie der Bestandteil einer Schaumkrone, lösen sich Muster auf im selben Augenblick, in dem sie entstehen.

Die Nacht ist weiß. Meine Sprache ist zu Schnee geworden. Elixier und Totentanz.

Wunderland. Hinter den Spiegeln das Mädchen Alice.
Sie dreht sich um. Sieht mich aus toten Augen an: Sieh, meine Pupillen sind Schnee. Woanders, ein Augenaufschlag. Ein Schatten unter dem Schneelid, eine Traumsequenz und die Kinderfrage:

Leben: bist Du nicht nur Traum?

Ich denke, schreibe, zeichne, träume und sage - nichts.



Die Herde

Bonn Streetview IV


Verwirrt, berauscht und gleichzeitig beruhigt lauschen wir einem Rauschen, das von keiner Straße herkommt, sondern vom Wind, der durch die kahlen Baumgruppen fegt.
Ich höre das Meer.
Diese eine Sehnsucht nach Meer und salziger Luft trage ich mit in das Hügel-Land, wo ich bald leben werde.
Ich klettere die steilen Sprossen eines Jägerstandes hoch, sehe den finnischen Weltensee Päijänne im winterlichen Land liegen.
Mit Oliver stehe ich vor unserem Haus und höre ein Pferd an meinem Ohr. Es mahlt und schnaubt. Ein Quäntchen Glück, in Zufriedenheit gebettet, ist in mich gestreut, oder gepflanzt - ich weiß es nicht. Schlägt es aus, wurzelt es, sprießt, keimt, wächst oder verteilt es sich? Es raschelt, da es aus knisterndem Papier ausgewickelt wird: ein Geschenk!
Mein Mantel wärmt mich wie ein Winterfell.
Aus dem Bild des Ponys löst sich ein anderes Bild: Giraffen ziehen als Silhouetten vor der tiefroten afrikanischen Sonne vorbei. Sie gehen nach Hause.
Und ich?

Musik im Pawlow. Bob Dylan singt aus vergangenen Jahrzehnten. Heiser meldet sich meine Jugend. Einsamkeit und röhrende Sehnsucht nach der großen, weiten Welt.
Adrienne und Georg sitzen an einem Tisch mir gegenüber. Wir schreiben, wir gehören zusammen. Wie die Elefanten, die sich am Abend in der afrikanischen Savanne an der Tränke versammeln. 
Adrienne steht auf und fragt die Bedienung hinter dem Tresen nach dem Song. „Eulories!“, ruft sie die Antwort der Kellnerin zu uns herüber. Es klingt wie: „Heureka!“, und Adrienne streut das Lied in ihren Text.
Ich verlasse die Tränke und trabe alleine in die Savanne. Die Sonne ist tiefrot und wird schnell hinter dem Horizont versinken. Dann wird es kalt werden.
Ich klaube ein paar Schnipsel zusammen. Warum bin ich hier?
Was treibt mich zur Tränke, und was treibt mich weg? 
Die Sterne blitzen in schwarzer Nacht. Berg und Prophet vereinigen sich ungesehen hinter Nebelschwaden. Filmmusik dröhnt aus dem Universum.
Ich, eine Pionierin in meinen Welten- und Weltraumreisen, bin dabei. Als Ei oder Spermium schlage ich ein ins Glücksmoment und bin Teil eines kosmischen Feuerwerks.
Bumm. Vorbei.
Es ist dunkel, grau, öde und kalt. Wird es jemals wieder hell?

Am nächsten Abend will ich an der Tränke vom Berg und vom Propheten erzählen. 
Alle Geschichten gehören uns allen, sage ich. Das ist mein Giraffenwissen, meine Elefantenweisheit. Aber da, an der Tränke, finde ich heute Ponys vor, und sie interessieren sich für Afrika nur als Abenteuerfilm. Ich werde pathetisch. Rufe aus, dass die Vereinigung von Berg und Prophet ja wohl ein Wahnsinns-Abenteuer ist, und ich führe sogar die Filmmusik an. Die Ponys schmatzen desinteressiert, und ich gehe.
Ich sehe Filmplakate, lese Ausschreibungen: Berg sucht Prophet, Prophet sucht Berg.
Lautlos bewege ich die Kiemen, ein Fisch im Weltensee zwischen den Hügeln meines Landes. Ein paar Blasen steigen auf zur stillen Wasseroberfläche. Es ist unser aller Land, unser Wasser, unsere Luft! Blubb.

Heute, beim vierten und vorerst letzten Streetview, wollte ich in Bonn herumlaufen und irgendwo hineingehen, wo ich noch nie gewesen bin. Doch ich treibe in die Kneipe, ins Pawlows, an die Tränke zu Adrienne und Georg.
Der Wind eines französischen Chansons weht mir um die Ohren, das Licht aus der runden Wandlampe wechselt von grün zu rot, blau, violett. Wir sind eine kleine, losgelöste Herde an einer Tränke in Bonns Wüste im ewigen Kneipensonnenuntergang. 




Kölnstraße 127
oder
Lebwohl, Bonn - ein phantastischer Abgesang


Der Doktor wohnt in einem Haus der Jahrhundertwende. Steingrau die Fassade. Vier dunkle Raben ragen an eisernen Stäben aus der Wand und bewachen das Haus. Einer sitzt rechts und einer in der Mitte des schmiedeeisernen Balkonlaufs, der sich wie ein Bauch aus dem Stein wölbt. Links fehlt ein Rabe. Über dem Balkon stehen zwei weitere Raben aus der Mauer.
Unter dem Balkon blicken hohe Fenster mit verschiedenfarbigen Gläsern auf die Straße. In der Mitte der zwei Fenster im Erdgeschoss ist je ein ovales, in Blei gefasstes Bildnis zu erkennen. Zur Linken zeigt es eine Frauenbüste in Biedermeierkleidung, zur Rechten einen Herrn, der gerade seinen Zylinder zum Gruß zieht.
Ein Weg mit Schachbrettmuster und marmorne Stufen führen zur schweren Eingangstür aus edlem, wenn auch ergrautem und von Straßenschmutz angegriffenem Holz. Der Marmor ist trüb wie ein abgestandenes Gewässer.
Ein gepflasterter Vorplatz wird zur Straße hin von einem schmiedeeisernen Zaun mit vergoldeten Blüten begrenzt. An den Seiten stehen zwei stilechte Laternen, die Gläser erblindet von Staub und Abgasen. Ein steinerner Sarkophag dient als Briefkasten. In der Mitte dieses wüsten kleinen Platzes steht ein grauer Busch wie aus einer anderen Wirklichkeit. Er ist voller spitzer, verschlossener Knospen. Man kann nicht erkennen, ob das Grau des Buschs vom Schmutz langer Jahre herrührt, oder ob er etwa aus Stein gemacht ist.

Kölnstraße 127. Daneben der Ümit-Market. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite der Aldi. Beide erleuchtet und menschenleer. Weiter hinten an der Straße leuchtet das Schild der Albertus-Apotheke rot auf neonweiß.
Es ist der frühe Abend des letzten Dezembertages 2012.
Hinten im Haus der Kölnstraße 127 brennt Licht. Da die Fensterläden nicht geschlossen sind, kann man in das Innere des Hauses sehen. Normalerweise fällt bei Dunkelheit nur einen schmaler Lichtstreifen durch die nach innen geschlossenen Läden hinaus auf die Straße.

Der Doktor durchschreitet die große Eingangshalle mit dem schief hängenden Kronleuchter und steigt die Kellertreppe hinunter. Der finstere Keller ist voller weißlicher Spinnenweben, die aus einer undurchdringlichen Dämmerung heraus beleuchtet werden. Der Doktor verlässt das Haus durch einen geheimen Schacht. Nun sitzt er wieder in seinem steinernen Busch und wähnt sich von den bleiernen Blättern vor Blicken geschützt.


Eine Straßenbahn rollt heran und hält an der Haltestelle hinter der Apotheke. Eine weibliche, elektronisch verfremdete Stimme sagt die Station an: „Rosental“.
Der unheimliche Doktor grinst. Seine faltige Haut runzelt sich um seinen schmalen Mund. Der Schmiss an seiner linken Wange wird fast von Falten verdeckt. Nur verläuft er horizontal, durchkreuzt die steilen, vertikalen Hautfalten wie ein falscher Pinselstrich.
Die weibliche, elektronisch verfremdete Stimme sagt leise, aber durchdringend:
„Alle aussteigen“.
Die Menschen steigen aus und sind sofort verschwunden.

Der unheimliche Doktor runzelt die Stirn. Seine stechend hellen Augen starren zur Straßenbahn.
„Was geht hier vor?“, fragt er leise in sich hinein; und er traut seinen Ohren nicht, als aus der Straßenbahn heraus die weibliche, elektronisch verfremdete Stimme laut fragt:
„Wer ist hier im Busch?“

Der unheimliche Doktor versucht, seine stechenden Augen schärfer zu stellen, stärker zu fokussieren.
Doch die Kölnstraße ist grau und leer. Nur aus Aldi, Ümit-Market und Albertus-Aphotheke leuchten die Neonlampen. So ist es recht. Hat er doch über diese Straße seinen wirkungsvollsten Fluch gelegt.
Aber doch: etwas stimmt hier nicht. Fast ist es ihm, als höre er die bleiernen Blätter seines Busches um ihn herum rauschen.
Etwas stimmt nicht mit der Straßenbahn.
Der unheimliche Doktor schaut genau hin.
Da entdeckt er auf der Leuchtanzeige der Straßenbahn den Schriftzug:

DOKTOR GRAU STEIGEN SIE AUS !

Fast durchzuckt es Doktor Graus Gesichtszüge und seine Falten elektrisch.
„Was geht hier vor?“, flüstert er wieder unter seinem Blätterdach. Seine Stimme klingt erbost.
Er hat dieses Mädchen in seinem Fenster gebannt. Ob er es wagen kann und soll, den Bann für kurz zu lösen, damit sie einmal nachschaut?
Er hat ihre magischen Kräfte doch fest im Griff. Das kleine Ding, was will sie gegen ihn, den magischen, grausamen Doktor schon ausrichten?
„Alice“, zischt er, „los!“.
Und aus dem ovalen Emblem im Fenster links neben der schweren Eingangstür löst sich eine Gestalt.
„Los!“, der Doktor dirigiert die zierliche Mädchengestalt über die Straße in Richtung Straßenbahn. Die Anzeige über dem Fahrerfenster wird dunkelrot

DOKTOR GRAU AUSSTEIGEN !

Und während das Mädchen Alice wie an eisernen Stricken über die Straße gezogen zu werden scheint, geschieht alles auf einmal.
Die Glastüren der Albertus-Apotheke springen auf, ebenso alle Apotheker-Schränke im Inneren. Heraus fliegen Pillen, Fläschchen, Tropfen, Pulver und prasseln wie ein tropischer Regen auf die Kölnstraße und die angrenzenden Häuser nieder.
Wütendes Zischen dringt aus dem steinernen Busch.
Ein Wirbelwind erfasst das Mädchen Alice und durchbricht alle unsichtbaren Stricke, durch die sie zuvor gefesselt zu sein schien.
Das Mädchen schreit auf. Sie schreit spitz und laut.

„Alice!“, zischt es aus dem Busch.
Aus der Leuchtanzeige der Straßenbahn kommen rote Funken, und aus der Anzeige der Haltestelle schießen Blitze hervor.
Sie schießen quer in den Regen aus Medikamenten und Heilmitteln, durchkreuzen ihn wie Schiffslampen mitten in einem Unwetter auf hoher See, dringen in das bleierne Blattwerk des Steinbusches im Vorgarten der Kölnstraße 127 und treffen auf die linke Wange des Doktors genau an seinem Schmiss.
Die weibliche, elektronisch verfremdete Stimme aus der Straßenbahn schwillt gewaltig an. Verstärkt von elektronischem Hall erhebt sie sich über die Kölnstraße, die Häuser, Vorgärten, Aldi, Ümit-Market und Albertus-Apotheke und ruft:

DOKTOR GRAU ES IST AUS !

Da öffnet sich des Doktors Schmiss, und heraus dringt stinkender, rußender Qualm.
Der grausige Doktor löst sich auf; Qualm steigt auf und wird mit dem Wirbelwind und dem Pillen-Pulver-Tropfen-Regen verquirlt.
Aus der Mitte des Vorgartens in der Kölnstraße 127 jedoch sprudelt auf einmal ein Springbrunnen mit kristallklarem, hell und blau glänzendem Wasser.
Statt der Steine steht dichtes Gras dort, wo einst ein steinerner Vorgarten war. Blank gewaschen glänzen die marmornen Stufen, der schachbrettgepflasterte Weg und die Gläser der eleganten Laternen.
Auch die versteinerten Raben sind lebendig geworden und haben sich krähend und krächzend in die Lüfte erhoben, als müssten sie sich noch über das Unrecht beschweren, das sie für so lange Zeit an eine Häuserwand bannte. Wie aus dem Nichts ist der fünfte Rabe dazu gekommen.
Die Raben flattern und schmeißen sich dann mit kräftigem Flügelschlag in den Wirbelwind, in dem immer noch das Mädchen Alice fliegt und trudelt. Sanft fassen sie mit ihren Schnäbeln Alices Kleider an den Bändern ihres gelösten Biedermeierkorsetts und nehmen das Mädchen dann auf ihre Flügel. Ebenso sanft lassen sie Alice in ihrem Garten an ihrem Brunnen nieder.
Das Haus steht in Flammen; doch dort, im Garten mit dickem, nassen, dunkelgrünen Gras und am Brunnen in seiner Mitte, ist die Luft klar und gut wie das helle, blaue Wasser, das aus dem Brunnen in die Höhe springt.
Alice lacht und schaut über die Straße und die Straßenbahn, die bedeckt sind mit all den Apothekermitteln.
Bunt verschneit ist die Kölnstraße. Viel zu lange lag sie unter Doktor Graus Fluch.
Aus Aldi und Ümit wachsen Obstwiesen. Ponies grasen zwischen den Apfel- und Feigenbäumen. Affen turnen über Ananasfelder.
Alice lacht. Sie lacht ihr unglaubliches Lachen, mit dem sie einst alle verzauberte. Wie das Wasser aus ihrem Brunnen sprudelt und gurgelt es aus ihr hervor.

Wie konnte sie nur damals nach Bonn kommen und glauben, dass dieser Anwalt ihr zu Recht verhelfen könnte! Doch nun lacht sie, nach all diesen Jahren der Ignoranz, der Ungerechtigkeiten, Beleidigungen, Demütigungen, Fausthiebe und Ohrfeigen; alles, was sie erleiden musste, bevor der Fluch des Doktor Grau sie endgültig bannte und mit ihr diesen wunderbaren Garten und Brunnen in der Kölnstraße 127.

Die Straßenbahn fährt an. Auf der Leuchtanzeige steht in smaragdgrünem Licht die Anzeige:

LEBWOHL BONN

Und während die Straßenbahn langsam durch die grünen Weiden und Obstgärten fährt, winkt Alice mir, der Straßenbahnfahrerin, lachend hinterher.
Die fünf Raben fliegen noch ein Stück neben mir und der Straßenbahn her.
Ich öffne alle Fenster. Frische Luft zieht durch die menschenleere Straßenbahn, angereichert mit einem Pulver aus der Albertus-Apotheke. Ich lecke meinen Zeigefinger und halte ihn in den Wind. Etwas Pulver bleibt kleben. Es schmeckt süß.

„Lebwohl, Bonn!“, rufe ich aus dem Fenster und blicke in die weite Landschaft vor mir.


Alice

Mein Fahrrad klappert über das Kopfsteinpflaster. Es ist ein relativ freundlicher Februarmorgen, an dem die Sonne von Ferne das Grau durchscheint. Ich fahre die Heerstraße entlang in Richtung Kölnstraße. Hier parken die Autos immer besonders blöd; immer in zweiter Reihe, so dass man ständig anhalten und auf dem Stück Einbahnstraße entgegenkommenden Autos ausweichen muss. 
Eine dunkelblaue Vespa kommt auf mich zu geknattert. Eigentlich müsste ich ausweichen, doch die Vespa nimmt Kurs auf meine Straßenseite. Kurz bevor ich den Fahrer anfluche, der nun schon fast frontal auf mich zukommt und mit der ausgestreckten linken Hand auf und ab winkt, sehe ich unterhalb seines ebenfalls dunkelblauen Helms auf der dunkelblauen Jacke die Aufschrift: POLIZEI. 
„Guten Morgen“, grüßt der Polizist freundlich, und während ich noch überlege, ob dieser Vespafahrer wirklich ein Polizist ist, sein kann, klärt er mich auf, dass hier gegen die Einbahnstraße auch das Radfahren nicht erlaubt sei. 
Als mir ein: „Hä, seit wann denn das?“ entfährt, lächelt er mich freundlich an, sagt: „schon immer“, und bevor ich noch eine dumme Bemerkung machen kann, kneift er ein Auge zusammen, zwinkert mir zu und wünscht mir eine „gute Fahrt“.
Verdutzt wende ich mein Fahrrad und biege, wie automatisch dem freundlichen Polizisten gehorchend, in die nächste Seitenstraße ein. Also radle ich dieses Mal eben durch die Georgstraße und gelange über die Adolfstraße in die Kölnstraße. Fahre rechts an den Straßenbahnschienen entlang, am Ümit-Market vorbei, schräg gegenüber liegt der Aldi und wieder rechts: die Kölnstraße 127.
Und nun sehe ich zum ersten Mal in all den Jahren, die ich in dieser Stadt wohne, dass sich dort die Haustür öffnet. Eine Frau kommt aus dem Haus. Auf hohen Schuhen geht sie die Treppen hinunter, durchquert den steinernen Vorgarten, öffnet das schmiedeeiserne, mit goldenen Blüten verzierte Tor und tritt auf die Straße hinaus. Ich muss aufpassen, nicht vor Staunen und Starren mit den Fahrradreifen in die Straßenbahnschienen zu schliddern oder auf den Randstein zu schrabben. 
Die Frau dreht sich zur Haustür um und winkt. Ich gaffe sie an und versuche erfolglos, auch noch zu erkennen, wem sie zuwinkt.
Sie ist mittleren Alters, trägt das sehr blonde Haar kurz und glatt und ist stark geschminkt. Ihr schmaler, roter Mund leuchtet. Ihre Nase ist spitz und endet in einem kleinen Schlenker aufwärts. Sie trägt vornehme, doch altmodische Kleidung. Heller Rock, dunkle Jacke, Handtasche.
Sie ist nicht wirklich Alice, doch ich muss in ihr Alice sehen - wen denn sonst! Irgendein Zauber macht aus ihr Alice; oder ist sie die Zauberin? Wer ist sie unter dieser dicken Schicht Make Up?
Ich könnte mich kneifen. Fahre weiter, nehme aber nicht den nicht den kürzesten Weg nach Hause durch die Graurheindorfer Straße, sondern, weiß der Teufel warum, den Umweg über die Drususstraße. 
Und dort sehe ich aus einem etwas auffällig parkenden, silbergrauen BMW einen Mann mit silbergrauem Haar steigen. Zuerst halte ich ihn für eine Erscheinung. Doch es ist keine Einbildung: dort steht der leibhaftige Dr. Grau und blickt suchend an einer Häuserfassade hinauf.
Nun frage ich mich doch, wer der Vespa fahrende Polizist ist, der mich - mit einem Augenzwinkern - auf diese Tour geschickt hat.


Lilli und Lilli

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Lilli, als sie erwachte und ihren Kopf im Schoß eines fremden Mannes fand. Im Schlaf hatte sie seinen Geruch tief eingesogen. Ihre Haare waren ausgefallen. Unmerklich hatten sie in seinen Schenkeln gewurzelt und lagen nun ausgebreitet auf seinem Schoß wie eine Decke. Sobald er aufstünde, würden die Haare an seinen Beinen herunterhängen wie eine Mähne und sie bei jedem Schritt umspielen bis zu den Fesseln.
Er war groß und hatte lange Beine. Lillis Haare waren auch lang. Nun glänzte ihr nackter Kopf hell und milchig weiß wie die Haut eines wundersamen Tieres. Sie fühlte sich erleichtert und befremdet. Sie saß aufrecht neben ihm. Schlaf schwamm noch in ihren Augen.
Sie lächelte. Er musterte sie kühl und genau. Ihre Backen waren rosa.
„Ich muss eingeschlafen sein“, sagte Lilli und fuhr mit ihren Fingern über die glatte Kopfhaut. Er nickte und hielt den Mund verschlossen. Er hatte ausgeprägte Gesichtszüge. Kinn und Nase standen hervor, die Stirn war hoch und gerade. Er drehte seinen Kopf und steckte seine Zunge in ihr Ohr. Es klingelte. Seine Zunge war lang und spitz und schmal. Sie wand sich wie eine Schlange durch ihre Gehörgänge und sprach zu ihr. Im Schlaf hatte sie seine Stimme erkannt.

Sie fuhren in einen Tunnel. Sie hatte Angst vor Dunkelheit. Es war, als würde ein Schlüssel umgedreht, und sie war alleine und einsam in einem Raum. Das war Dunkelheit.
Sie schlang ihre nackten Arme um ihn. Sie waren schneeweiß und leuchteten im Tunnel.
Er hatte einen großen, freundlichen Bärenbauch. Sie verschwand darin. Die Dunkelheit wurde zu einer Substanz wie Erde. Der Tunnel war ein dunkler, schattiger Fluss, auf dem sie mit einem Kahn fuhren. Er hielt ihre Hände fest. Unter ihren Fußsohlen wuchs dunkelgrünes Gras.
Sie rannte und rannte.
„Kennst du den hohen weißen Berg, durch den dieser Tunnel führt?“, fragte die Stimme.
Wie die Spitze einer Erdscholle ragte sie aus einem großen Volumen. Sie schwang in ihrem Bewusstsein hin und her wie ein leuchtendes Pendel in einem dunklen Raum. Lilli war nackt, und er hüllte sie in ihre Haare, die nun an seinem Schenkel wuchsen.
„Ich kenne den Berg“, sagte sie. Ihre Stimme war warm, fruchtbar und farbig. Sie vermischte sich mit der seinen.
Er brummte nun wie ein Bär. Er wiegte sie in seinen Pranken. An seinen Backen wuchs weißes Fell, und seine Zähne funkelten wie Gischt auf den Wellen eines gewaltigen Meeres. Sie summte das Lied von der Liebe, die so hoch ist wie ein hoher weißer Berg und so tief wie ein tiefer blauer See.

Als sie aus dem Tunnel fuhren, war es schon Abend. Ein grüner Kanarienvogel flog aus ihrem Ohr. Er verschwand in einem Vogelschwarm in der Landschaft vor dem Zugfenster.
„Dies ist eine bemerkenswerte Zugfahrt“, sagte Lilli und zog seine Zunge aus ihrem Ohr.
Er rollte sie ein wie einen Farn. Es roch grün und modrig.
„Ja, das ist eine unbekannte Strecke“, erwiderte er. „Der Zugführer fährt sie zum ersten Mal“. Seine Zunge hatte Wege in ihr hinterlassen wie Regenwürmer auf nassem Lehm. Die Spuren hatten sich zu einem Flechtwerk verwachsen. Sie bebte wie eine Membran. Ihr Leib war eine fellbespannte Trommel, die in einem mit Fackeln erleuchteten Urwald geschlagen wurde. Bamm bamm tamm tamm dumm dumm dumm.
„Kennen Sie den Zugführer?“, fragte Lilli den Unbekannten.
„Oh ja, ein alter Freund“, entgegnete er und lächelte sie sehr freundlich an.
„Meinen Sie, er nimmt die Landschaft wahr, wenn er den Zug führen muss?“, fragte Lilli weiter. „Ich glaube“, sagte der fremde Mann „die Landschaft ist speziell für die Reisenden. Doch wir können uns auf den Zugführer verlassen. Er ist ein sehr guter Zugführer und bringt uns sicher ans Ziel.“

„Lassen Sie uns doch einen Tee trinken im Speisewagen“, schlug Lilli vor. „Aber gerne“, sagte der Fremde. Sie nahm ihren weißen Hermelinmantel von der Ablage. „Ich habe überall Abdrücke von Ihnen am Körper“, sagte sie leicht vorwurfsvoll. „Sehen Sie dort, dieser hat die Form und Farbe einer Pflaume“. Lilli drehte ihm ihre runde Hüfte zu. „Oh, und Sie riechen und duften nach Pflaumenwein“, bemerkte er. Sofort waren seine Lippen zur Stelle und saugten den dicken, süßen Likör ein. „Himmlisch“, brummte er, „unglaublich!“ Seine Stimme bebte und zischte wie ein erregtes Meer.
„Mögen Sie Erdbeeren?“, fragte Lilli. „Ja, sehr“, antwortete der Fremde. Er half ihr in den Mantel. „Innen ist der Mantel kühl wie Seide“, wisperte Lilli, „doch die Erdbeeren sollen sie zum Schluss bekommen“. Er knurrte und traf sie mit seinem hellblauen Blick. Mit einem Haps verschlang er beide Erdbeeren, die ihre Brüste schmückten. Dann riss er ihre Brüste ab. „So köstliches Marzipan gab es noch nie“, brummte er und knetete und knetete, bevor er sie verschlang. Sie schrie auf und riss tüchtig an seiner Mähne. Sein Brummen und ihre Schreie erfüllten den ganzen Zug. „Es ist gefährlich, mit Ihnen zu reisen!“, rief Lilli.
Er hob sie auf seine Arme und trug sie durch den Zug. Der Hermelinmantel fiel über seine Ellenbogen, ihre Haare hingen seidig von seinen Schenkeln herab. „Wie schön Sie sind“, raunte er, und in seinem Blick flackerte ein warmes, sanftes Licht.
„Ich heiße Lilli“, sagte sie.
„Was für ein zauberhafter Name“, erwiderte er.
„Ich heiße auch Lilli.“
Seine Schritte federten, denn der ganze Zug war mit Moos ausgestattet wie mit grünem Samt. Das Moos schluckte das Rattern des Zuges und roch pilzig.
„Erwarten Sie jemanden im Speisewagen?“, fragte er.
„Nein, ich glaube, wir werden unter uns sein“, entgegnete sie.

Lilli und Lilli setzten sich gegenüber an einen Tisch im Speisewagen.
„Trinken Sie auch einen Rotwein?“, fragte Lilli.
Lilli nickte. „Ja gerne“, antwortete sie.
Der Ober, ein freundlicher, blasser Mann mit schlanken Gliedern und einem Rentiergeweih brachte ihnen große Kristallschalen mit einer purpurroten, kochenden Flüssigkeit.
„Sie müssen den Wein sofort trinken, so dass Ihre Zunge Feuer fängt“, sagte er, als er die Schalen vor sie hinstellte. Lilli und Lilli tranken, und ihre Zungen fingen Feuer. Sie mussten lachen, als sie sich so mit offenen Mündern und brennenden Zungen gegenüber saßen.
„Es brennt wunderbar“, sagte Lilli mit schmelzendem Blick. „Wunderbare Farben in den Flammen! Das Rosa Ihrer Wangen! Das Violett Ihrer Pflaumen! Fast ist die Glut schon weiß und rein wie Ihre Haut!“
„Es piekst etwas“, rief Lilli. Sie ließ ihren Pelz von den Schultern gleiten, um sich an den Schulterblättern zu kratzen. „Sehen Sie nur!“, rief sie erneut, „Lilli, sehen Sie her! Was ist das?“ „Ihnen wachsen Federn aus den Schultern“, antwortete Lilli. „Rosa, Violett, Purpur, Gold und Weiß“, zählte er auf. Sie spürte das Wachsen wie ein nahes Rauschen. Das Aufbrechen ihrer Haut machte ein Geräusch wie eine tauende Eisdecke. „Auch bei Ihnen geschieht etwas“, rief Lilli. „Öffnen Sie Ihr Hemd!“ Bevor er es tun konnte, riss sie es ihm vom Leib. Auf seiner Brust war ein dichtes, schwarzbraunes Fell gewachsen. Sie hatte sich auf den Tisch geworfen und dabei die Schalen umgeschmissen. Das Kristall war zerbrochen, und die umgeschüttete Flüssigkeit entzündete sich nun. Lilli lag inmitten der Scherben auf dem brennenden Tisch und streichelte seinen Brustpelz. Ihr Hermelinmantel sog die Flüssigkeit ein und färbte sich rosa und purpurn. Sie umfasste Lilli und fand einen Pelzbesatz auch auf seinem Rücken. Er zog sie zu sich heran auf seinen Schoß. Seine Augen nahmen sie auf wie Nahrung. Sie lag in ihm wie in einem Futter. Sie versetzten sich in eine bisher unbekannte Schwingung.

Es war still im Zug. Die Tischdecke war ausgebrannt. Der Ober hatte ein kleines Licht entzündet. Er wartete auf ihre Wünsche. Die Kristallscherben blitzten als Sterne am Himmel. Sie fuhren durch die Nacht.
So liebten sie sich, und Lilli fragte Lilli: „Meinen Sie, wir sind uns schon einmal begegnet?“


Eva Wal, 2007
Publiziert im November 2013 im Künstlerbuch von Désirée Wickler "Utopie gesucht", 
Arbeitstitel_fading memories 2012
Zencloud

25. August 2012


Gestern auf einer Party. Ein Geburtstagsgeschenk, Styrenedruck  auf Soff, wird verlesen: 

Wenn Du stehst, dann stehe. Wenn Du gehst, dann gehe. Wenn Du sitzt, dann sitze. Wenn Du liegst, dann liege.

„Das ist Zen“, sagt die Schenkende, und die Beschenkte, das Geburtstagskind, wiederholt, fast andächtig mit dem Kopf nickend: „das ist Zen“.

Heute ist heute und irgendwie doch nicht. Ich bin noch gestern und vorgestern in Vorbereitung auf morgen und übermorgen. Bin auch noch letztes Wochenende. 
„Holunder“, unser Duo, die Dorothée und ich, Musik und Klänge. Sounds und Computer programmierte Loops zu meinen Texten; Lyrik und Prosa. Schmelztiegel meiner Gedankenhöhen und –tiefen, geistigen Funkenflüge, seelischen, musisch-philosophischen Tauchgänge. Holunder: Sounds mit Blindgängerbomben, Kriegsdienstverweigerer, zum Töten gegossen. Bomben zu Zenglocken, und das Zen-Geburtstagskind sagt: „schööön“.

Doch wo und wann ist Bonn und Streetview, wo sind das Heute, das Hier und das Jetzt?
Alles ist Bonn, doch will es sich heute entziehen dem Stein-auf-Stein-Sein.
Ich möchte heute nicht raus aus dem Revier. Habe doch schon alles gesehen und sehe heute nichts.

Wenn Du schaust, dann schaue.

Heute Straßenschau durch Gedankenschleier. Bin in meiner Wolke, muss auch noch etwas besorgen.

Atelier Neumond. Heute laufen hier wieder Fäden zusammen. Lebenswege kreuzen, Gedanken werden getextet und in die Cloud gesendet. „Hallo Welt, hier ist Neumond Streetview drei“.
Die Kollegen treffen ein. Wolfgang mit Verfrühung, einer Flasche Blanc de Noir, Fliegen im Bauch und Kommissar „Maigräte“ im Kopf, wie er sagt. Kaffee, Kaffee. Mikel, Chrizz und Monika: „schön, Euch zu sehen“. Kaffee, Kaffee. Georg und Adrienne, Wiedersehen, wie schön. Dazwischen Anmoderation und Couscous zum Spätstück. Und Oli, mein Oli, besorgt alles außen herum, kümmert sich um alles. Hausmanntiger, was wären wir ohne Dich?

Nest Neumond, hier ist es doch am schönsten. Ich möchte heute nicht raus. Habe Bonn doch im Kopf, im Bauch und in den Füßen und wie gesagt auch noch etwas zu erledigen.
Zugegeben bin ich etwas verkatert. Das Geburtstagskind schenkte lachend mein Glas immer voll, da lacht es sich so schön. Und wenn Du lachst, dann lache und feiere die Feste, wie sie fallen und wohin!

Wenn Du läufst, dann laufe… Ich laufe in meiner Wolke, meiner Cloud. Die Kölnstraße stinkt. In Bonn stinkt es überhaupt. Schlechte Luft, das ist ein Grund aus Bonn wegzuwollen, aufs Land, in die Natur, um aufzuatmen und zu sagen:
Wenn Du atmest, dann atme gute Luft.

Bussard, Wiesel, Reh und Pferd, ich komme, bin schon da, fliege, fliehe, fließe… Alles fließt, das ist auch meine Meinung, zenplatonisch. Es gibt keinen Moment, der dem anderen gleicht, kein A = A. Wider die Logik, wider das Diktat der angeblichen Vernunft! Blödsinn, sage auch ich dazu. „Die Wahrheit ist in der Sinneswahrnehmung wie in einem Spiegel – come in un specchio“, das ist einer der Sätze meines Bonner Sommers mit Giordano Bruno, voller Ekliptik, Ex- und Egozentrik. Fliehkraft und Schwerkraft halten mich in einer Bahn. Ich fliege Schleifen und Schlaufen und höre der Platane am alten Zoll zu. Weise Licht- und Schattenerzählerin, Geschichtsträgerin, Blattspielerin und Wurzelhalterin, sagt sie zu meiner Unruhe:

Wenn Du stehst, dann stehe.
Wenn Du rauschst, dann rausche.
Wenn Du hörst, dann lausche.
Wenn Du lauschst, dann höre zu.

Sie, die alte Zenfreundin am alten Zoll über dem Rhein, ist die Ruhe in meiner Unruhewolke. Den ganzen Sommer über komme ich hierher zum Mittagessen. Ein Cappuccino, eine Holunder Fassbrause und abwechselnd eine Pizza Margherita für drei Euro dreißig oder Tagliatelle mit Ruccola, Walnüssen und Tomaten für drei Euro achtzig. 
Hinter der Platane auf der großen Wiese steht die riesenhafte Rotbuche.

„So einen schönen Platz gibt es bei uns nicht“, sagte mein Neffe aus Hamburg, als er mich im Frühjahr besuchte. Morgens gingen wir zum alten Zoll und tranken eine Fassbrause und einen Cappuccino. Wir waren immer die ersten Gäste. Die Kellner schienen noch verschlafen, doch sie lächelten müde und freundlich. Auch so etwas Leckeres wie Fassbrause gebe es in Hamburg nicht, erzählte mein Neffe. Er findet Bonn toll und schön.

Auf dem Weg zum Atelier mit den letzten Besorgungen für das Projekt nächste Woche in der Tasche gehe ich durch den Annagraben. Diese Straße ist eine Schlange. Wie ein Fluss schlängelt sie sich durch die Altstadt, und immer wieder vergesse ich ihren Verlauf. Da, hinter dieser Biegung ist die Yogaschule. Dort gibt es Dance Orange; einmal war ich dort mit meiner Zen-Freundin.
Schräg gegenüber der Yogaschule rauscht eine große Platane. Es schient ein Rauschen zu geben, ein einziges Rauschen vom alten Zoll hierher, von Platane zu Platane setzt es sich fort von Bonn über Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa, die Weltmeere und alle Kontinente…
In meiner Wolke ist ein Brausen, der Cloud-Sound löst sich auf, verdichtet sich wieder. Moment und Ewigkeit in meiner Heimatstadt Bonn, meinem Altstadt-Dorf.

Begegne Adrienne und Georg, auf der Suche nach ihrem Bonner Straßenerlebnis. 
Martha sitzt vor ihrem Café: „Hallo Eva, wie läuft Deine Ausstellung?“ „Welche Ausstellung?... Ja, gut. Danke, bis bald“.

Suche Ruhe. Einfach hinsetzen und schreiben: Jetzt. 
Lasse mich auf einer der orangen und etwas abgeschubbelten Bänke im Pawlow’s nieder und lege mein Schreibzeug auf den zur Bank gehörigen orangen, etwas abgeschubbelten Tisch. Zwei leere Aschenbecher und ein Milchkaffee in roter Schale. Ein weißgelber Schmetterling fliegt um den Tisch vor mir.
„Schau mal, ein Schmetterling“, sagt die Frau am Tisch zu ihrem Gegenüber.
Die Sonne kommt heraus, durchbricht die Wolken.
„Schau mal, die Sonne“, sagt die Frau.
Der Schmetterling leuchtet und tanzt, tanzt und leuchtet.

Ich schaue an den Fassaden der gegenüberliegenden Häuser entlang. Halb abgeschubbeltes Efeu, gelbbläuliche, gräuliche Fassaden, Kirschbäume, sommerlich grün. Die Jugendkunstschule mit hellblauem Totenkopf-Graffiti zwischen Fenster und Tür, Restaurant Mogul auf lila Schild hinter rosaroten Geranien. Buntes Bonn.
Musik dringt aus der Kneipe. Erst Blasmusik, osteuropäisch, dann lateinamerikanisch, tanzbar. Wenn der Kellner drinnen ist, pfeift er mit.
Der Schmetterling leuchtet und trudelt immer noch um die orangen Bänke im Sonnenlicht.
Er holt mich ab in diesen Moment, ins Hier und Jetzt.
Sonne, Himmel, Wolken, Tische, Bänke, Aschenbecher, Milchkaffee, Schalen.
Wenn Du tanzt, dann tanze.
Wenn Du fliegst, dann fliege doch!

Der Schmetterling trudelt über die Kaffeetasse der Frau am Nebentisch. „Buh!“, macht sie. Der Schmetterling fliegt davon. Über die Straße mit parkenden Autos, zwischen den Fassaden hindurch, in das Rauschen der Platanen vom Annagraben bis zum alten Zoll hinein, über den Rhein hinweg, stromaufwärts zum Siebengebirge und weiter, weiter,  bis zu den duftenden gelben Feldern und rauschenden Wäldern mit Reh, Hase und wilden Pferden darin. Bussarde in den Lüften darüber. Wasseradern, Wege, Musik aus Scheunen, tanzende Menschen, Feuer, Rotwein, Rausch, Ruhe.
Ich schließe die Augen. Trinke den letzten Schluck Kaffee, lege den Stift beiseite.

Wenn Du schreibst, dann schreibe.
Wenn Du schweigst, dann schweige.


Neumond Streetview III, 25. August 2012